Gute Leute: Roman (German Edition)
Treffen.«
Für einen Moment wirkte er zerstreut.
Im Sommer 1923, eine Woche nachdem man seinen Vater bei den Junkers-Werken entlassen hatte, hatte er mit ihm im hinteren Teil eines Cafés Unter den Linden gesessen. Sein Vater beklagte den Wahnsinn, dem Deutschland anheimgefallen war. Dies waren in der Tat absonderliche Tage. Es schien, als näherte sich die Welt, die sie kannten, ihrem unausweichlichen Ende, während aus den Druckmaschinen eine Flut neuen Geldes hervorsprudelte. Die Menschen schleppten mit Handwagen Löhne in Millionenhöhe weg und am Abend reichten die Papierhaufen nicht einmal mehr für ein Bier und eine Wurst.
Plötzlich war die Horde um Hermann in das Café gestürmt gekommen. Thomas grüßte sie mit einem Kopfnicken, doch Hermann tat so, als sähe er ihn nicht. Seit dem Ende ihrer gemeinsamen Schulzeit schien er ihn nicht mehr zu kennen. Einmal hatte Thomas ihn zufällig getroffen und gegrüßt, doch Hermann hatte, als genügte allein Thomas’ Stimme, Übelkeit bei ihm auszulösen, ihn nur mit einem sonderbaren Blick bedacht und kein Wort gesagt.
Thomas verstand dieses Verhalten nicht. Immerhin waren sie einmal enge Freunde gewesen. Als sich Hermanns Vater das Leben genommen und Frau und Kinder mittellos zurückgelassen hatte, war es Thomas gewesen, der ihm geholfen hatte, den gesamten Besitz zu verkaufen, damit die Familie überleben konnte.
Das Ganze war wirklich eine traurige Geschichte. Nach dem Krieg hatte ihr Geschäft Konkurs gemacht, »Kritzingers Spielwarenwelt«, das kleine Elektroartikel, Spielzeug und allerlei nette Erfindungen auf dem Schiffswege aus den Vereinigten Staaten importierte. Doch Vater Kritzinger war kein guter Kaufmann, und eines Tages war ihm nicht einmal mehr genug Geld geblieben, den Amerikanern noch einen Bleistift abzukaufen, worauf sie ihn zunächst noch eine Weile auf Pump beliefert und dann einen Rechtsanwalt mit der Sache beauftragt hatten. Als der Bankrott amtlich war, hatte Hermanns Vater sich auf die Eisenbahngleise gelegt. Thomas persönlich bevorzugte Menschen, die von Turmspitzen sprangen. Ein Moment des freien Fluges, des Schwebens in der Luft, trotz allem noch ein kurzer Augenblick von Größe – warum nicht dem Leben noch ein Letztes abgewinnen?
Nach dem Tod des Vaters hatte Hermann regelrecht Hunger gelitten, und Thomas hatte ihm gezeigt, wie man in Berlin kostenlos zu essen bekam. Wenigstens einmal in der Woche waren sie nach dem Unterricht zu einem Streifzug durch die Luxushotels aufgebrochen. Thomas war als im Exil lebender russischer Prinz durch den Haupteingang geschritten und Hermann, der seinen getreuen Begleiter mimte, hatte seinen Koffer getragen. Wenn einer der Portiers zu viele Fragen stellte, hatte Thomas in hochmütigem Tonfall eine Kanonade russischer Sätze auf ihn niedergehen lassen, und Hermann hatte diesen Ausbruch mit einer Serie von Beleidigungen und Drohungen übersetzt. Zumeist hatten die Portiers daraufhin klein beigegeben und vor dem jungen Prinzen einen Diener gemacht.
Sie waren durch die Flure gestreift, mit dem Aufzug gefahren und die Treppen hinauf und hinab gestiegen mit dem einen Ziel: den Koffer mit Essbarem zu füllen. Manchmal war vor einer Zimmertüre ein Korb mit Schrippen oder ein Schälchen Konfitüre stehen geblieben, aber lieber hatten sie nach einem wirklich feierlichen Ereignis Ausschau gehalten: einem Empfang für Führungskräfte von Siemens-Schuckert, einem historischen Wiedersehen, das die Mitglieder einer Großfamilie feierlich begingen, oder einer Party amerikanischer Filmproduzenten. Bei solchen Gelegenheiten war es ein Leichtes, an knusprige Semmeln, geräucherte Würstchen und Käse zu kommen und an guten Tagen sogar an ein Stück Braten mit Dörrpflaumen. Zuweilen wagten sie es auch, sich im Hotelrestaurant niederzulassen, und Thomas verzauberte die Ober, wenn sich auf seinem Gesicht das süße Erstaunen eines verwöhnten Jünglings ergoss, der nicht damit gerechnet hatte, dass sein Vater sich zum Diner verspäten würde. Der Höhepunkt aber war jener Sommerabend gewesen, an dem sie im Salon des Hotels Adlon gesessen, Wein getrunken und voller Genuss dem Divertimento von Mozart gelauscht hatten, und dabei in aller Seelenruhe in ihrem mit Papier ausgelegten Koffer Hering in englischem Pfeffer und sehr viel Räucherlachs verschwinden ließen. Hermann hatte die Hotelgäste in ihren Smokings taxiert und halb bewundernd, halb aufgebracht zu Thomas gesagt. »In deiner Gesellschaft lernt man
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