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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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grellen Lichter der Stadt zu treten, jede der großen Leuchtreklamen stand für ein großes Unternehmen, jedes neue und überraschende Lichtspektakel erzählte von einer Idee. Immer schon hatten ihn neue, von anderen erfundene Patente brennend interessiert, suchte er nach Gelegenheiten, solche Ideen aufzugreifen und in verbesserter Form umzusetzen.
    Er nahm die Straße, an deren Ende sich »Schulz« befand, der exquisite Herrenausstatter. Nach Anbruch der Dunkelheit pflegte dezentes Licht die ausgesuchten Anzüge im Schaufenster zu beleuchten, und der Laden wirkte so einladend, dass Thomas nie vorbeigehen konnte, ohne dort stehen zu bleiben und sein Gesicht in der spiegelnden Fensterscheibe zu betrachten.
    Er hob die Augen. Am fernen Horizont stiegen Feuergarben auf. Er hörte Stimmen. Als er den Blick zum Schaufenster von Schulz wandte, spürte er sogleich, dass etwas anders war als gewohnt. Eine Gruppe junger Burschen in braunen Uniformen und mit brennenden Fackeln in den Händen kam johlend an ihm vorüber. Der Bürgersteig war mit glitzernden Glassplittern übersät. Jetzt sah er, dass es in dem Konfektionshaus von Menschen wimmelte, mit eilig zusammengerafften Kleidungsstücken in den Händen hasteten die Leute umher. Sein Blick blieb an einer ihm bekannten Gestalt hängen – der Portier aus ihrem Bürogebäude, Beck war sein Name. Er hatte es eilig, den Laden zu verlassen, auf dem einen Arm einen Stapel Kleider und auf dem anderen ein kleines Mädchen mit blonden Locken. Ihr rundliches Gesicht war rußgeschwärzt, ihre Augen weit aufgerissen.
    Eine weitere Gruppe Fackeln tragender junger Burschen näherte sich dem Geschäft. Einer von ihnen steckte den Kopf in das eingeschlagene Schaufenster, brüllte, »Ehrloses Pack, die Klamotten von Saujuden wollt ihr?«, und warf eine brennende Fackel ins Ladeninnere. Das Feuer erfasste den Ständer, an dem die teuren blauen Schurwollmäntel mit ihren gefälligen Kragen hingen, die sofort in Flammen aufgingen. Die Leute sahen jetzt zu, dass sie wegkamen.
    Von oben, aus einem Volksempfänger hinter einem der beleuchteten Fenster des Nachbarhauses, dröhnte die bekannte Stimme des Führers. Thomas hob die Augen. Man schaute von dort auf ihn herab. Plötzlich durchfuhr es ihn: Diese Leute hatten ihn bestimmt jeden Abend wie verzaubert vor dem Schaufenster von Schulz stehen sehen.
    Kein Grund zu übertreiben, beschwichtigte er sich schnell, in Krisensituationen neigen Menschen dazu, die Welt dem eigenen Verfolgungswahn entsprechend zu deuten. Erika Gelber hatte ihm schon oft erklärt, sein fieberhaftes Bewusstsein dränge ihn, im Wachzustand wie im Traum, in Schreckensszenarien, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hätten. Und selbst wenn diese Leute ihn gesehen hatten: Vielleicht hatte er ja das Schaufenster betrachtet und sich dabei den endgültigen Ruin der jüdischen Schneider ausgemalt? Andererseits, wie ließ sich seine Nibelungentreue ausgerechnet zum Schaufenster von Schulz erklären, schließlich mangelte es in Berlin nicht an prachtvolleren und kunstvoller beleuchteten Schaufenstern, zum Beispiel denen des KaDeWe, dessen Wände mit Bildern von Cäsar Klein dekoriert waren, oder denen von Hermann Tietz oder von Wertheim, die bereits nicht mehr in jüdischem Besitz waren. Einen Augenblick später schon war Thomas bereit zu glauben, dass etwas in ihm, etwas Unbewusstes offenbar, tatsächlich den Untergang des Herrenausstatters Schulz herbeigesehnt hatte. Wie sonderbar doch die Kapriolen der Seele sind, ein weiteres spannendes Thema, das er mit Erika Gelber erörtern würde.
    Doch dann fiel ihm ein, dass ausgerechnet der Anzug, den er heute trug, bei Schulz erworben war. Aber gab es nicht viele Geschäfte, die solche Anzüge verkauften? Nein, genaugenommen gab es solche Anzüge nirgendwo anders … Schulz hatte eine eigene Kollektion. Unwillkürlich fuhr seine Hand zum Nacken, ertasteten seine Finger das Label, legte sich die Angst eng um seinen Körper wie das Tuch des teuren Anzugs.
    Plötzlich erfüllte ihn Wut auf diesen elenden Haufen von Schlägern, Strolche, die in ihrem ganzen Leben noch nichts geleistet hatten und ihre Zeit mit Randale und Zerstörung verbrachten, statt etwas zum Wohlergehen der deutschen Wirtschaft beizutragen. Voller Widerwillen sah er zu einem großgewachsenen, kräftigen Mann hin, über dessen Schulter mehrere Anzüge lagen. Wie abstoßend waren seine vor Begeisterung weit aufgerissenen Augen in dem einfältigen Gesicht, einem Gesicht

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