Gute Leute: Roman (German Edition)
zu den Bergen, die das Dorf umgeben, vielleicht sich umdrehen und kehrtmachen.
Brest, Juni 1941
Bedeckt von warmem Staub erwachte sie mit tränenden Augen. Jetzt war es soweit, nur keine Zeit verlieren.
Sie zog ihre Stiefel an, die sie bereits seit einem Monat jede Nacht neben der Tür abstellte, schob ein Taschenmesser in den Schaft. Vor dem Fenster zog im Tiefflug eine Feuer spuckende Maschine vorüber. Der Putz fiel in Placken von der Decke.
Sie hastete die Treppe hinab und stürzte auf die Straße. Gebäude und Bäume standen in Flammen, Feuer leckte an den Rasenflächen. Überladene Fuhrwerke ratterten durch die Menschenmenge, die sich wie eine Schlange die Allee hinabwand. Sie warf sich in das Getümmel, alle Sinne auf die Entfernung zwischen sich und Kolja konzentriert: zur Festung. Sie kletterte über einen umgestürzten Lastwagen, dessen Fahrer noch auf seinem Sitz saß, die verkohlten Hände um das Lenkrad geklammert. Neben ihm lag ein eingewickelter Körper, ein kleines Mädchen, dessen Haar aussah wie ein versengtes Reisigbündel unter einem Haarreif. Benommen wandte sie sich nach rechts und kam an dem Haus vorüber, in dem sich das Zimmer mit den Karten befand. Eine brauen Staubschicht lag über allem. Der Vorhang im zweiten Stock war ein wenig beiseite gezogen, als hätte sie ihn bei ihrem letzten Besuch so zurückgelassen.
Einer der ersten Junitage. Ein schöner Morgen, die ausgelassene Stimmung eines Feiertages, die Straßen waren überflutet von gutgelaunten jungen Männern, den Absolventen der Militärschulen. Maxim war zu einem Besuch in der Stadt eingetroffen, und sie hatte ihn gleich hierher geführt, in das Kartenzimmer. Einen Moment lang hatte er fassungslos in der Mitte des Raumes gestanden und geflucht, dann hatte er sich auf die großen Papierbahnen gestürzt und sie in Stücke gerissen. Hatte ihr befohlen, jeden Fetzen Papier im Raum auf einen Haufen zu werfen, ebenso alle Karten und Kopien, die Memoranden und den Stoß mit den Briefen, den echten wie den fingierten, die sie mit Thomas Heiselberg gewechselt hatte.
Als er begriff, dass sie unter falschem Namen mit dem Deutschen korrespondiert hatte, stieß er sie gegen die Wand und ohrfeigte sie. Sascha hatte einer gewissen Victoria Sowlowa aus der Dwortzowaja Geld gegeben, damit sie Briefe von ihrer engen Freundin in Lublin erhielt. In der chiffrierten Nachricht ging es um die Krankheit einer Tante: »Die Krankheit der Tante hat sich verschlimmert, niemand interessiert sich für sie, selbst ihre Liebsten haben sich schon mit ihrem Tod abgefunden – ganz ehrlich, ich weiß nicht weiter.«
Maxim brüllte, sie habe wohl den Verstand verloren. Zum ersten Mal schien ihr, als hätte er endlich gelernt, sie zu verabscheuen.
Sie stopften die Papierfetzen in eine Blechkiste und verbrannten sie. Wenn die Deutschen sie angriffen, würde man nach Personen suchen, die in Kontakt zu ihnen gestanden oder sich für eine Versöhnung mit ihnen eingesetzt hatten. Man würde sie als Volksfeinde und Verräter brandmarken und auf der Stelle erschießen! Auch in Kriegszeiten würde der gute alte Apparat noch arbeiten, würden Menschen verhaftet und Gräber ausgehoben werden.
Maxim zertrat mit seinen Stiefeln die Asche mit den verkohlten Überresten der Karten und Briefe und fragte, ob noch weitere Unterlagen vorhanden seien. Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Es gab noch einige verkleinerte Kopien von dem Kartenmaterial, die sie unter ihre Matratze geschoben hatte. Sie wagte nicht, es ihm zu sagen. Jedes Mal, wenn sie hörte, dass an die Türen der Nachbarn geklopft wurde, hatte sie gehofft, dass es die Vertreter des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten wären, die ihre Unterlagen benötigten, um sich auf die Parade vorzubereiten. Sie versuchte mit aller Kraft sich zu erinnern, ob in dem Schrank im Büro noch etwas war, doch ihr Verstand war wie vernebelt. Jede Einzelheit schien so und auch anders beschaffen, so dass sie sich darauf konzentrierte, sich selbst Anweisungen zu geben: Jetzt stehen, jetzt sitzen, jetzt Wasser trinken.
Maxim hegte gewiss den Verdacht, sein Schicksal sei ihr egal, doch das war nicht der Fall. Sie wunderte sich nur über die Tatsache, dass er sich so entschieden ans Leben klammerte. Nachts, in ihrem Bett, hatte sie begriffen, dass ihr Mann noch aus einem weiteren Grund nach Brest gekommen war: Er hatte gehört, der Genosse Nikita Michailowitsch Kropotkin plane, sich wegen irgendeiner kleinen Affäre an seiner
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