Guter Sex Ohne Stress
Bedürfnissen kein betretenes Schweigen folgt, halte ich in meiner Praxis sehr viel von Gedankenspielen. Das ist vielleicht auf den ersten Blick etwas ungewohnt, führt uns aber Schritt für Schritt hinein in die persönliche sexuelle Vorstellungswelt.
Gedankenspiele und Fakten
Am liebsten verwende ich das Gedankenspiel, Kapitän eines Schiffs zu sein, das auf einem großen Ozean fährt. Das Meer mit seinen Gewalten sorgt dafür, dass das Schiff sowohl in seichten Gewässern schwimmt als auch in stürmischen Wellen auf und ab schaukelt. Die Strömungen des Wassers stehen sinnbildlich für die unterschiedlichen Funktionen der Sexualität – Lust, Fortpflanzung und emotionaler Austausch –, die die Grundlagen der persönlichen sexuellen Vorstellungswelt bilden. Je nachdem, ob man gerade frisch verliebt ist, sich ein Kind wünscht oder in einer langjährigen stabilen Partnerschaft lebt, treibt das Schiff mal mehr in der einen, mal mehr in der anderen Strömung oder ankert hin und wieder in einem sicheren Hafen.
Das Schiff hat drei verschiedene Decks. Im Rumpf befindet sich das große gemütliche Wohnzimmer, in der mittleren Ebene das Schlafzimmer mit viel frischem Wind um die Nase und oben ist die Aussichtsplattform, von der man weit über das Meer blicken kann. Statt mit einem Schlüssel, öffnet der Kapitän die Türen zu den Decks mit Fragen: »Wer bin ich?« für das Wohnzimmer, »Wie verhalte ich mich sexuell?« für das Schlafzimmer und »Was sind meine sexuellen Phantasien?« für die Aussichtsplattform. Je öfter er die Räume betritt und je genauer er sich umschaut oder seine Gedanken bis weit über den Horizont schweifen lässt, desto mehr lernt der Kapitän über seine sexuelle Vorstellungswelt. Auf seiner großen Fahrt durch das sexuelle Leben sammelt der Kapitän auch noch allerlei Treibgut aus den Wellen und verstaut es sicher im Inneren des Schiffsrumpfs in seinen »Erfahrungs-Vorrats-Tonnen«.
Kathrin und Daniel lade ich jeweils einzeln ein, mit mir auf diese Gedankenreise zu gehen. Die Frage, in welchen Gewässern der Kapitän sein Schiff gerade steuert, beantwortet Daniel bissig: »Keine Ahnung, wo mein Schiff gerade treibt. Auf der Lustwelle ganz bestimmt nicht. Eher liegt es auf dem Trockenen.« Von Kathrin bekomme ich ein ganz ähnliches Gleichnis zu hören: »Ich würde ja so gern wieder in Richtung Lust steuern. Stattdessen habe ich das Gefühl, mein Schiff läuft gar nicht erst aus dem Hafen.«
Viele Paare, die zu mir kommen, haben zu Beginn unserer gemeinsamen Sitzungen das Augenmerk auf einer Funktion der Sexualität – häufig der Lust. Bei genauerem Nachfragen zeigt sich aber bei den meisten recht schnell, dass alle Bereiche der Sexualität ins Ungleichgewicht geraten sind. Bei Kathrin und Daniel belasse ich vorerst ganz bewusst ihre spontanen Aussagen zum lustbetonten Fokus auf die Sexualität und werde erst am Ende der Gedankenreise noch auf die Funktionen Fortpflanzung und emotionaler Austausch zu sprechen kommen.
Aber jetzt beginnt erst einmal der Rundgang über das Schiff. Der Kapitän startet auf dem »Wer bin ich?«-Deck. Ganz gleich, ob man jung oder alt, gesund oder krank ist, sich als Mauerblümchen oder Raubkatze fühlt, irgendwer an den Nerven sägt oder man gerade im siebten Himmel schwebt, nahezu alle Lebensumstände nehmen direkt oder indirekt Einfluss auf die Sexualität. Hartnäckig hält sich die Meinung, wenn es unter der Gürtellinie nicht mehr klappt, dann ist man gehemmt, verklemmt oder vielleicht gar pervers. Dabei haben Wissenschaftler schon längst bewiesen, dass über 50 Prozent der sexuellen Funktionsstörungen eine körperliche Ursache haben. Wenn die Scheide beim Sex häufig trocken bleibt, der Verkehr schmerzt oder der Penis immer nur auf Halbmast steht, dann lohnt es sich für den Kapitän, seine Gesundheit durch den Schiffsarzt genauer unter die Lupe nehmen zu lassen. Klar, es gibt bei nahezu allen sexuellen Problemen auch den berühmt-berüchtigten »Knoten im Kopf«. In den Gedanken der Menschen kreisen permanent Ansprüche, alles passgenau unter einen Hut zu bringen: Karriere, Familie, Beziehung, soziale Kontakte und so weiter. Niemand ist frei von althergebrachten Rollenklischees vom starken Mann oder der perfekten Frau. Der Kapitän stellt sich deshalb vor seinen großen Wohnzimmerspiegel, betrachtet sich ausgiebig und erkennt all seine Stärken und Schwächen, Wünsche und Sehnsüchte in seinem Spiegelbild.
Auch Kathrin und Daniel schauen
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