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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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heißt, Leiser wollte jemanden voller Freude mit Empathie, Detail und Farbe lebensecht und glaubhaft erzählen hören, oder gar nichts hören. Im Grunde wollte er druckreife Literatur hören, um seine Sphäre nicht verlassen zu müssen.
     
    In dem Sinne hatte ich noch einmal versucht, ihm einige der hier dauerhaft Übriggebliebenen zu beschreiben; darunter vier – naturgemäß schwer zu beschreibende – Philosophen, drei davon mit BAT Soundso nicht schlecht bezahlt. Sie gehörten verschiedenen Schulen an, wobei mir derjenige, der die analytische Philosophie vertrat, ganz liebgeworden war – leider verkehrte nur ein einziger, obendrein unregelmäßig erscheinender Mediziner hier, was die Chancen auf beratende Gespräche über die körperlichen und die geistigen Probleme ungleich verteilte. Dazu ein Hörfunkautor, erklärte ich – also zwei in diesem Haus, ergänzte Leiser, zwei, klar. Wir führen hier viele Professionen doppelt: zwei Fotografen, einer davon Israeli, immer interessant, zwei in Drehbücher hineinmalende Filmfrauen, zwei IT -Männer, nur einmal vorhanden dagegen eine Friseuse, ausgebildet im Salon des berühmten Haartheoretikers Vidal Sassoon, heute freischneidende, ambulante Frisurenkünstlerin, die unseren Tresenköpfen zweimonatlich den allerfeinsten Bauhaus-Haarschnitt verpaßt … eine schlanke Mittzwanzigerin, empfindungsreich und wißbegierig, nicht so proper wie ihre Kolleginnen in den zahllosen Läden der nur einen Block entfernten »Straße der Friseure«, doch mit allem Nötigen ausgerüstet, Männerkämmen, Frauenkämmen und der aktuellen Sechshundert-Euro-Schere von Matsusaki.
    Zumeist gegen Ende unseres Gesprächs tauchten weitere Stammgäste auf. Manche wechselten wie in einem englischen Herrenclub stehend ein paar Worte zur Begrüßung, um dann – eine Lücke von vorzugsweise einem bis zwei freien Tischen zwischen sich lassend – mit all ihrer Intelligenz niederzusinken auf ihren Platz. In eine Abgeschlossenheit also, von der kein anderer abschätzen konnte, wieweit sie erwünscht, als Disposition gegeben oder sonstwie unabänderlich sein mochte.
     
    Die zwei schmächtigen Männer in ihren Vierzigern, die fast gleichzeitig gegen neunzehn Uhr kamen, kannte auch nach jahrelanger Anhänglichkeit hier kaum jemand mit Namen. Den drahtigeren der beiden hatte ich den Samurai getauft, weil er nicht nur voluminöse, in den dreißiger Jahren ins Deutsche übersetzte Bücher über japanische Kriegsstrategien im frühen Mittelalter las, sondern einmal auch eine anscheinend aktuelle Monatszeitschrift eben dieses Titels mit dem dazugehörigen Schwertkämpfer auf dem Cover – in schwungvoller Aktion festgehalten, versteht sich. Wobei ich später gar nicht mehr sicher war, ob es die Zeitschrift »Der Samurai« wirklich gab, oder ob ich einen zwar ähnlich lautenden, doch nicht zweifelsfrei lesbaren Titel eines Magazins in seiner Hand willkürlich ergänzt hatte. Mit durchweg unbewegter, trister Miene schaute er ins meist mäßig besetzte Lokal, wie auf der Suche nach der richtigen Frau zum Doppel-Harakiri. Im smalltalk zwischen den Kellnerinnen und mir blieb ihm der kriegerische Name ohne sein Wissen erhalten, anscheinend ein passender nom de guerre.
     
    Der Mann besitzt einen gutlaufenden Laden für Kinderspielzeug, hatte ich erklärt, der muß jeden Tag seinen ganzen Charme aufbieten, um junge Ehefrauen und alleinerziehende Mütter zum Kauf von irgendwelchem Zeug zu bewegen, pädagogisch natürlich auf dem neuesten Stand, alle Produkte ökologisch astrein undsoweiter …
    Da muß er sich aber wirklich anstrengen, sagte Leiser, nachdem der Samurai an uns vorbei zur Toilette gegangen war – mit sowohl für Spielzeugläden als auch Cafés zu festem Schritt und geradezu totenmaskenhaftem Gesichtsausdruck.
     
    Und der da, hatte ich geflüstert, der dort am Ecktisch vorm Fenster – was würdest du diesem Übbriggebliebenen zutrauen?
    Diesen Menschen wollte ich ihm unbedingt näherbringen – er saß allabendlich über Zeitungen gebeugt, vor sich aufgereiht zwei, bald drei oder vier halbvolle Gläser, weil er seinen Weißwein stets nur zur Hälfte austrank, um ziemlich flott den nächsten zu bestellen, so daß die Reihe nicht gänzlich geleerter und deswegen auch nicht abgeräumter Gläser anwuchs. Ein in schlichte Wolljacken oder Pullover gekleideter, präsenzarmer Mann, der versuchte, mit dieser verschwenderischen, doch beruhigenden Trinksitte seinen Alkoholismus vor sich selbst und anderen zu

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