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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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er verlieren immer, ich weiß, aber wir geben niemals auf …
    … und wiederholen das ganze, weil’s beim ersten Mal nicht geklappt hat? fragte Leiser ironisch dazwischen – du hast es immer noch nicht kapiert, mein Lieber, deine schöne Subkultur, der Underground, die Alternativkunst und ähnliche Etikette sind Selbstbeschwichtigungsformeln gewesen, nicht mehr … das Kleinbürgertum mußte den Schock der Rebellion doch verwinden und sich die überall herumtobenden, irre langhaarigen Kinder, diese wild aussehenden Zeiten irgendwie erklären …
    … da kann ich die Daheimgebliebenen beruhigen – es war’n wilde Zeiten …
    … aber nur für die Übereifrigen, sagte Leiser …
    … auch für die Mitläufer, sagte ich …
    … und wer diese wilden Zeiten damals überlebt hat, der kann heute nichts anderes als ein Spießer sein …
    … Soll ich mich jetzt schämen, weil ich noch da bin?
     
    Wir umkreisten diese Thematik noch eine Weile, ohne dabei auf einen Nenner zu kommen. Statt dessen klapperten wir eine kleine Auswahl gemeinsamer früherer Bekannter ab, bei denen sich in jüngerer Vergangenheit eine erwähnenswerte Minimal-Veränderung ergeben hatte – ein routiniertes, im Grunde interesseloses Frage- und Antwortspiel, das uns – wie mir erneut auffiel – als Intermezzo oder Versatzstück bei drohendem Versiegen streitträchtiger Gesprächsthemen diente. Überraschenderweise kam Leiser noch einmal auf Ella zu sprechen. Natürlich paßten unser beider Traumata auch seiner Meinung nach nicht gut zusammen: Sie kann dem Mann an sich nicht nachsehen, daß einer dieser untreuen Beschützer sie als Schwangere verlassen und zur Alleinerziehenden gemacht hat; während du es geradezu darauf anlegst, von der Frau an sich verlassen zu werden, um den damit verbundenen Ur-Schmerz wieder zu erleben und einem neuerlichen Gefundenwerden entgegenzugehen …
     
    Laß mal gut sein, unterbrach ich ihn, ich bin kein Maso und auch keine deiner gestörten Romanfiguren, die ein Leben lang nach Erleuchtung suchen, ehe du sie am Ende einfachheitshalber auf irgendeine ausgedachte Weise sterben läßt …
     
    Doch dann hatte sich Leiser an eine meiner gefährlicheren Schwachstellen herangearbeitet: Du nimmst nach wie vor nichts wirklich ernst, du kannst offensichtlich so einer Frau nicht beistehen, und vor allem kannst du Schwächeren nicht helfen – dir fehlt etwas ganz Entscheidendes.
    Empathie?
    Nenn es, wie du willst …
    Ich bin ein Elefant, Madame … einer, der die Einsamkeit genauso fürchtet wie die Nähe …
    Wenn du so weitermachst, sagte Leiser, dann bleibt dir demnächst nur noch das Trash-Programm der alten Männer …
     
    Wir hatten nicht mal zwei Stunden geredet, als wir das Fler wieder verließen. Dieses Halbjahrestreffen gehörte nicht zu den Verabredungen, die mit einem entspannten Abendessen im La Famiglia abgeschlossen wurden … Ich brachte ihn zur U-Bahn Eisenacher Straße. An der Ecke Akazien kaufte er sich eine FAZ für die fast einstündige S-Bahn-Fahrt.
     
    Irre, sagte er, dieser kleine Zeitungshändler mit dem Brasilientick war damals schon in diesem Laden, als ich hier noch wohnte …
     
    Vor fünfundzwanzig Jahren.
     
    Ja … damals, die große Zeit … die langen Abende im Café Mitropa … Wenn alles gelaufen war, hatte Leiser manchmal seinen Kopf an meine Schulter gelehnt und mit ironischem Seufzer gesagt – ach du … mein Bester, ich liebe dich, Vatter, nur dich … Damals war er noch Lyriker. Und was er sagte, fand ich schön … es brauchte keine Antwort …
     
    An diesem Abend aber verabschiedeten wir uns ohne einen Schulterklaps oder andere Berührung – das kleinste zwischen uns beiden mögliche Lächeln mußte genügen.
     
    Auf dem Heimweg gingen mir weiterhin Teile unseres Gesprächs durch den Kopf. Leiser hatte es einmal mehr geschafft, meine gegen mich selbst gerichteten Bedenken zu verstärken: Du suchst immer noch nach Zuneigung, von der du annimmst, sie nie gekriegt zu haben, sagte er … du denkst irrigerweise immer noch, das Ich sei ein Anderer, sagte er, während gerade deins ein im Namen der Freiheit bis zur Asozialität hochgezüchtetes Individuum ist … eine Solonummer, ein Spieler nur, der Unernst in Person, dessen moralische Verbesserung ausblieb, sagte er auch … einer, der bloß die Uhr runterlebt … wehe dem …
     
    Auf halber Strecke hörte ich leise gespielte Gitarrenklänge, etwas Klassisches, vielleicht Bach, ohne sogleich den Urheber ausmachen zu können.

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