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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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attraktiv und bildete den atmosphärischen Lockstoff für die unterschiedlichsten, meist aus der Provinz stammmenden Nachberlingeher. Einladend auch, daß es im Westteil keine strikt hierarchisierte Gesellschaft mehr zu geben schien, weil sich das geschäftswillige Bürgertum spätestens seit dem Mauerbau verdünnisiert hatte und Platz machte – für Studenten, Künstlerkandidaten, Lebenshungrige und auch für mich.
    Der Umzug nach Berlin – eine irrationale Entscheidung also? In der Hoffnung auf bessere Ausbildung, den größeren Spielraum, ein erotisches Ba(r)bylon? Mit dem Vorsatz, sich hier ein Stück interessante Biographie abzuholen? Die ältlichen Polit-Parolen wie die vom »Schaufenster-des-Westens« oder der militärsprachliche Regierungsslogan vom »Vorposten der Freiheit« verfingen beim Wechsel in die amputierte Stadt nicht mehr so recht – paradoxerweise sollten diese Sprüche nach einer allmählichen Verschiebung der Perspektive dennoch an Wahrheitsgehalt gewinnen. Mitte der Siebziger waren – anders als bei den vorherigen Zuzugswellen – die ersten Befreiungskämpfe gelungen, die Motive zum strikten 68 er-Kaderdenken/Einsatz nicht mehr gegeben. Die Nachberlingeher unterschieden sich jedoch weiterhin deutlich von denen, die es nach München oder Hamburg zog – nach Berlin gehen hieß, den Königsweg der Unangepaßten zu nehmen … und dem westlichen Hinterland, den Eltern, dem Barras entkommen. Das in ihrer früheren Heimat stark verbreitete, enthemmte Konsumdenken hatten die Nachberlingeher durchschaut, als neuestes Produkt stellten sie zunächst die Konsumverweigerung ins Schaufenster-des-Westens … zur Verdeutlichung legte sich auch mal ein Aktionskünstler in die Auslage und kuckte mit sanft verführerischem Augenaufschlag auf die Stadtbummler draußen. Anders zu leben als der Rest der Republik, darum ging’s, kritischer in der Haltung, erfinderischer in der Gestaltung des individuellen Daseins, und das im ewig jugendlichen Gefühl von Vergnügen – auch für Erwachsene. Die auf dem »Vorposten der Freiheit« waren so frei, die Einseitigkeit dieses Schlagworts zu erkennen. Nicht nur Philosophiestudenten wußten, daß es sich genausogut auch um den Vorposten der Unfreiheit handelte – schließlich war der existentielle Grundwiderspruch frei/unfrei als sichtbare Realität in die Stadt hineingemauert.
    Und ich? Welche Gründe – außer der Verliebtheit – bewogen mich, hierherzuziehen? Ohne Studienplatz, ohne die Ersparnis des lang zuvor bereits geleisteten Wehrdienstes? Das damalige »Ich« war natürlich nicht dasselbe, das dreißig Jahre später über die Motive früherer Entscheidungen nachdenkt. Das damalige »Ich« wußte wahrscheinlich einfach nicht weiter und glaubte in eine andere Stadt gehen zu müssen, um ein Anderer, möglichst ein besserer Anderer zu werden. Es dachte, Berlin entspreche seinem gespaltenen Bewußtsein und sei daher der richtige Ort für ein noch vages Selbstverbesserungsprogramm. Dieses »Ich« wollte sich von seiner subkulturellen Vergangenheit lösen und zog schizzoiderweise dahin, wo das von überall hergeströmte subkulturelle Establishment lebte. Kein Fehler, hatte Dizzi dazu gesagt – kehr heim in die Fremde, geh in die Leere, und du wirst empfangen. Mit welchen Vorsätzen andere Neu-Berliner ihren Findungsprozeß angingen – zielbewußt, opportunistisch, womöglich karrieregeil –, ließ sich beim ersten Rundumblick nicht erkennen, das brauchte zwei, drei Jahre oder mehr.
     
    Mit Leiser und mir war’s schnell gegangen – seit dem Kennenlernen suchten und trafen wir uns fast täglich. Dabei mißfielen ihm meine ausschweifenden Erklärungen, die verkappten Versuche, an unserem Caféhaustisch das Wort zu führen – Westentaschensoziologie nannte er das. Überhaupt redete ich ihm zuviel. Seine Knie hätten unterm Tisch gezittert, gestand er einmal, weil er zu häufig nicht drangekommen sei. Fand ich kokett, er war ja nicht schwach, schon gar nicht, wenn er mit drei Wein intus ein halbes Dutzend Mülltonnen auf offener Straße erledigte. Zweimal in der Woche gingen wir zusammen aus, und zwar bis in den Morgen, bis zum ›Schrei der Katze‹, der letzten Station, oder der ›Domina-Bar‹, der allerletzten, schon in Nähe unserer Wohnungen. Wer würde nicht neugierig sein auf das, was im Zustand erlebnishungriger Mattigkeit noch passieren könnte …
     
    Doch es waren nicht die Kneipengängerei, die Beobachtungslust und die Kommentierfreude allein, die

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