Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
beim Kneipenbummel mit unserem Wohnungsgeber Dizzi, überquerten wir den Winterfeldtplatz auf dem Weg von der Ruine zum gegenüberliegenden Dschungel, keine hundert Schritte weit – laut Dizzi die Strecke allnächtlicher Bier-Polonaisen zwischen zwei unterschiedlich extremen Lokalen, wobei man sich im einen jeweils kurz vom anderen erholen konnte. In einem spontan entstehenden Trupp wechselten wir von einem Tresen zum nächsten, trotteten hin, trotteten nach ein, zwei Bier mit anderen Begleitern wieder zurück. Auf dem Rückweg ging eine unbekannte Frau an meiner Seite, ein paar Worte fielen, bevor sie unvermittelt ihre Brust aus der Bluse holte und sie vorzeigte … nur eine … eine formschöne, füllige Naturbrust – heilige Maria, Jungfrau, Mutter und Herrscherin … warum tat sie das? Vielleicht hatte ich ihr erzählt, daß dies mein erster Abend als Neu-Berliner war. Während sich die anderen langsam weiterbewegten, drängte die Frau zur Mitte des Platzes, ins Licht der einzigen Laterne, wo sie die Brust mit untergriffiger Hand mir zur besseren Sicht freundlicherweise noch ein wenig entgegenhob – à la bonne heure. Ich schaute auf die rosige Blume im weißen Fleisch, schaute dann zu Katja rüber, schaute wieder auf die Frau und hielt ihre Entblößung für eine weniger ironisch als eher selbstbewußt stolz gemeinte Geste, mit der sich eventuell, doch nicht zwingend, die Erwartung einer anerkennenden Gegenleistung verknüpfte. Für Augenblicke blieben wir noch unter der Laterne stehen, unbeachtet von den anderen, ausgenommen Dizzi und Katja. Um der Situation eine solide Basis zu geben, erbat ich zeichensprachlich ihre Telefonnummer. Möglich, daß es beim Gestikulieren danach aussah, als hätten meine Hände die Unbekannte an irgendeiner Stelle berührt. Mit Erreichen des ›Dschungels‹ zerstreute sich die Gruppe. Drinnen hatte Dizzi den Teil-Strip kurz kommentiert – so’n oben ohne wär besser als das Biermann-Lied, das unterwegs von meiner Begleitung gesungen wurde. Und Katja sagte, gute Idee, daß du dich bei der Frau noch mal telefonisch bedanken willst – aber heut Nacht küss ich dich nicht mehr.
Warum überhaupt Berlin? Eine Stadt, die mich bei früheren Besuchen so gut wie gar nicht gereizt hatte. Aus welchem Grund ausgerechnet dorthin? Auf der Flucht nach uneingestandenen Niederlagen? Im Zuge meines Rumtreibersyndroms, aus Instinkt, gar Herdeninstinkt, oder aus Neugier? Aus einer Laune heraus, behauptete ich noch Jahrzehnte später, eine befristete Sache, eine Auszeit. Schließlich kam ich nicht aus einer badischen Kleinstadt, sondern aus dem aufregenden Hamburg hierher, ich … gerade über Dreißig, blond, leicht blasiert … eine Art Hippie-Businessman, der einen kleinen Haufen Geld gemacht hatte und wegen der dabei entstandenen Abscheu gegenüber der lieblosen Geschäftemacherei sowie des schlechten Mittäter-Gewissens auf der Suche nach etwas anderem war. Ein psychischer Kraftakt, nach sieben, fast acht Jahren Hamburg mit der Erkenntnis zu verlassen, einfach keine Wurzeln schlagen zu können, eine große Liebe und damit auch die Lieblingsstadt für immer verspielt zu haben …
Die bisherigen vier, fünf Stationen im Land waren eine Nummer kleiner gewesen … das Dorf meiner Kindheit sowieso, dazu Goslar, klar, auch Hannover und Düsseldorf … Wobei ich weniger dieser Städte wegen dort gelebt hatte als vielmehr aufgrund sich bietender Kontingenzen, bestimmter Konstellationen und innerer Zustände – für ein paar Jahre, plus oder minus, bleiben oder gehen, gehen oder bleiben bis zum nächsten Ortswechsel und dem Versuch, wieder woanders Fuß zu fassen.
Die Stadt, diese Halbstadt, war für mich einfach nur neu und fremd. Noch Monate nach dem Umzug setzte ich mich bei jeder Rückkehr kurz hinter der Grenze in eine zwischen hohen Neubauten überdauernde Nachkriegsbarackenkneipe namens Jäger-Klause. Ich brauchte – wie ein reisender Handelsvertreter vor seinem Termin – ein paar Minuten der Besinnung vor dem Eintritt. Danach wußte ich wieder, daß die Pracht West-Berlins nur rudimentär vorhanden und in Teilen schwer lädiert, wenn nicht gar verschüttet war. Die Tristesse der milchkaffeebraunen Altbauten, der angeschossenen Brandmauern fiel stärker als anderes ins Auge – in Waschbetonkübeln vertrockneten Krokusse, wie gepflanzt für Künstlerfotos in Schwarzweiß. Nicht die trotzig hochgezogenen Vorzeigeecken, sondern die erstarrte Historie, die Verfallenheit war
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