Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Zeitungsartikel, Decken, Taschen, Fotos, Flugblätter und Kopien von Brinkmann-Referaten, von Frank-O’Hara-Referaten, stellenweise in mehreren Schichten, alles in Griffnähe wie Spielsachen für ein intelligentes Kind, das auf Knien stundenlang kramend herumrutschte. In dieser simulierten Verwahrlosung fühlte Katja sich zu Hause; die Gefahr eines horror vacui sollte dort erst gar nicht aufkommen. Mit wenig Schlaf und viel Programm fuhr sie nachmittags zum Studieren nach Dahlem, während ich die Zeit zum Flippern oder Zeitunglesen nutzte – im Café Wintergarten oder in der Paris Bar, einem atmosphärisch aus der Zeit gefallenen, kaum besuchten Charlottenburger Lokal, in dem einer der bekannten, vorübergehend arbeitsunlustig gewordenen RAF -Anwälte stundenlang Schach spielte. Noch im ersten Berliner Quartal landete ich während einer Party mit seiner, wie mir später erklärt wurde, aktuellen Geliebten im Bett, wo wir etwas geschwächt einnickten, um bald darauf von Flammen geweckt hochzuschrecken – sie hatte in letzter Minute um unser Lager herum Dutzende Teelichter aufgestellt … Mit angesengten Haaren sprang ich auf, das brennende Kopfkissen in der Hand.
Katja bewunderte die Gelassenheit, mit der ich durch die Tage stromerte. Spät abends und nachts taten wir das gemeinsam – und noch enthielten die Nächte alles. Zum Auftakt Kino oder Restaurant, danach die karnevaleske Kneipenszenerie. Hier versuchten Frauen und Männer in aller Öffentlichkeit, so weit wie möglich in die Intimsphäre des anderen vorzudringen – das Programm hieß Eros für alle, niemand mußte sich anstrengen, niemand etwas Besonderes sein, außer besonders geistesgegenwärtig. Nach etlichen Unterhaltungen zu Hause angekommen, schmökerten wir erstmal ’ne Runde. Ein nächtlich aufgedrehtes Paar, das sich zusammen voranlesen wollte, brauchte einen Literatur-Cocktail, der das Hinausschieben der Lust zum Vergnügen machte, den Übergang vom Rezipieren zum Agieren subtil begünstigte – als zusätzlicher Botenstoff, versteht sich. In Frage kamen nur Stories von Donald Barthelme, Queneau oder Jürgen Becker, mit Büchern wie »Ränder«, »Felder« und »Umgebungen« legten wir uns morgens um fünf hin und lachten bis kurz vorm Schlaf.
In den ersten hundert Tagen in der Stadt lernte ich mehr als hundert Menschen kennen – so leicht wie noch nirgendwo, etwa ein Dutzend sogar mit vollem Namen. Anfangs waren Katjas Kommilitonen vorbeigekommen, auch der von uns sofort geschätzte, schlagfertige Germanistikstudent Detlef Meyer, der kurz darauf in der ›Knolle‹ den Bremer Harry kennenlernte, der mich mit seiner Medizin studierenden Wohnungsgenossin ›Doktor Karin‹ bekannt machte, die wiederum nur Tage später Leiser und mich im Café Mitropa zusammenbrachte … Eine erste Clique, die im ›Dschungel‹ beieinanderstand und zuschaute, wenn das neue Paar Detlef und Harry tanzte – we are family, Schritt, Schritt, Schritt und seitlich in Kopfhöhe in die Hände geklatscht, we are family, Schritt, Schritt und … yes we are, we were. Leiser und ich kuckten zu, ohne das Gespräch zu unterbrechen. Auf der Piste, dem Swutsch abends unterwegs, gab’s stets diese beiden Hauptgruppen, die nächtlichen Erzähler und die Tänzer, die Dichotomie eines voll im Saft stehenden Szenevolks – immer dabei auch eine in den handlungsarmen Ecken der Disko diskutierende Hegel- oder Heidegger-Runde, das paßte. Vierundzwanzig Stunden am Tag konnten wir ausgehen, und das unter Leute mit ähnlichen Bedürfnissen samt der latenten Bereitschaft, sich gegenseitig zu bestätigen. Nachts kam da eine ganze Menge zusammen, was sich am nächsten Tag mit weiteren Zufallsbegegnungen in Café und Kneipe fortsetzte, auch mit Dizzis Anhang wie dem Kunststudenten Walter, einem der in diesen Gruppen seltenen Geburtsberliner. Weil er keinen Galeristen fand, hängte er samstags seine Bilder für ein paar Stunden im Tiergarten an Bäume und lud mittwochs zum festen Teeabend, wo sich weitere Bekanntschaften anbahnten … Größere Aufmerksamkeit als bei der pleine air show war ihm sicher, wenn er aus der Hüfte heraus eine Zigarette kunstvoll zwischen seine Lippen schnipste, um dann mit dem auf dem Kopf balancierten Bierglas eine Weile durchs rumpelvolle Lokal zu spazieren – alles Tricks, die ihn für seine spätere Laufbahn als gymnasialer Kunsterzieher prädestinierten …
Die Kunst also eine kommunikative Spielwiese? Nach dem Motto Jeder-kann-mitmachen?
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