Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt
diffamierenden Kennzeichnung, der Deportation und schließlich der » Liquidierung« der Juden– der Männer, der Frauen, der Kinder–, von der Expansions- und Kriegspolitik, der Behandlung der Fremdarbeiter aus dem Osten und der sowjetischen Kriegsgefangenen gegen alles Völkerrecht, von der Tötung der Geisteskranken, von der Schreckensherrschaft in den besetzten Gebieten… Dies und jenes erlebte man selbst, anderes hörte man von Bekannten oder Soldaten oder auch durch ausländische Sender, vieles war die im Dritten Reich offiziell vertretene Politik.
Die Wahrheit zu verdrängen, hatte man ungezählte Entschuldigungen– zugunsten des Regimes und für sich selbst. Den Versailler Vertrag, die Weltwirtschaftskrise, die Arbeitsbeschaffung, die Notwendigkeit von » Gesetz und Ordnung«; daß es sich bei den offenkundigen Untaten nur um » revolutionäre Auswüchse« und » vorübergehende Entgleisungen« handle; die moralische Rechtfertigung, ja Legalisierung durch den Reichspräsidenten von Hindenburg; daß nicht wahr sein könne, was » die Gegner behaupteten«, denn » Deutsche tun so etwas nicht«, in den » Konzertlagern« erfolge lediglich die Umerziehung von Kriminellen und Arbeitsscheuen, allenfalls von Kommunisten; Mißstände und Verfehlungen seien außerdem » dem Führer nicht bekannt«, wüßte er davon, so würden sie sofort abgestellt; selbst müsse man in jedem Fall » seine Pflicht tun«; im Krieg dürfe man nicht gegen das eigene Vaterland sein; die Juden würden ja nur » in den Osten ausgesiedelt«; was könne man schon als » kleines Rad am Wagen« ausrichten; es sei besser, nicht alles und jedes zu bemerken; schließlich habe man das Recht, auch auf die eigene Karriere zu achten; die Familie dürfe man nicht wegen geschehenden Unrechts, das einen nicht direkt angehe, gefährden; Politik und Geschichte seien » nun einmal so«…
Es gibt vielerlei Erklärungen für das Verhalten der meisten Deutschen unter der nationalsozialistischen Herrschaft, und ganz und gar nicht alle Motive waren unehrenhaft. Verglichen mit anderen Völkern aus anderen Bereichen der Geschichte und der Zivilisationen sind wir auch nicht die einzige Ausnahme. Viele kleine und große, heroische Beispiele des Widerstands sind im übrigen bekannt.
Was aus den Erfahrungen, auf die die Aussagen hier sich beziehen, abgeleitet werden kann, ist die Erkenntnis der Möglichkeit für jetzt und immer, sich unter allen Umständen, sofern man die Wahrheit, die sich uns auf mannigfache Weise bemerkbar macht, nicht verdrängt, nicht abweist, sich ihr nicht entzieht, die Gesinnung der Freiheit und der Würde des Menschen zu bewahren. Aus ihr erwächst gegen anhaltend schweres Unrecht der Widerstand im Maße des jeweils Möglichen– am besten bereits vorausschauend in den Anfängen, also schon innerhalb der Rechtsstaatlichkeit, deren Mißachtung oder Verletzung, um ihr entgegentreten zu können, zur Kenntnis gebracht und zur Kenntnis genommen werden muß, damit nicht wieder eines Tages die Antwort zu erfolgen braucht: » Davon haben wir nichts gewußt!« Aus der erlebten Unmenschlichkeit erhebt sich die Menschlichkeit als das universal gültige Regierungsprinzip.
Eugen Kogon
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