Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt

Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt

Titel: Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, dass die Geschäftigkeit ihre Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.«
    Ja, viele meiner Generation verurteilten die Eltern dafür, dass sie sich der Vergangenheit nicht stellten. Dass sie den Blick abwandten und in Selbstmitleid verharrten, anstatt sich auch in die Opfer der Deutschen hineinzufühlen. Meine Generation schuf ein dichotomisches Bild der Moral, um das angeblich eindeutig Böse eindeutig verurteilen zu können.
    Liest man die Aussagen, die Kempowski von Durchschnittsbürgern über Hitler und die Konzentrationslager zusammengetragen hat, wird alles komplizierter. Da zeigt sich Menschliches auch im Opportunistischen und sogar im Bösen. Kempowski hat hier wie ein Buchhalter der Zeitgeschichte mit Hunderten von Originaltönen festgehalten, dass die Wirklichkeit vielschichtiger war als mein, als unser damaliges Denkkonstrukt über sie.
    »V or der Frage steht das Nachdenken, und zum Nachdenken gehört Sympathie«, schrieb Kempowski einmal an einen Teilnehmer seines literarischen Sommerklubs für junge Leute. Er fragte die Menschen nicht, um sie auf die Anklagebank zu setzen, er fragte sie, um zu verstehen. Vor ihm mussten sie sich nicht trotzig verschließen und konnten Ambivalenzen zu erkennen geben, auch Scham, auch Uneinsichtigkeit.
    Wurde das Böse dadurch verharmlost?
    Das Gegenteil war der Fall. Mit Bestürzung erkannten und erkennen wir, die Leser damals wie heute, wie sich Böses aus Banalem entwickeln kann (nicht muss) und wie viel Aufmerksamkeit es braucht, um den Übergang vom Banalen zum Bösen zu erkennen.
    Und noch etwas habe ich gelernt, als ich erneut über unseren Umgang mit dem Schweigen über das Vergangene nachdachte. Geschwiegen wurde nicht nur von den Tätern und Mitläufern. Geschwiegen wurde lange Zeit auch von den Opfern. Viele waren damals noch nicht imstande, sich mit einer Vergangenheit auseinanderzusetzen, in der große Teile ihrer Familien umgekommen waren und sie selbst nur nach großem, unsäglichem Leid oder durch glückliche Umstände überlebt hatten. Sie verschwiegen ihre Leiden, Ängste, ihre einstige Ohnmacht und Nichtigkeit; und sie entzogen sich der Auseinandersetzung mit den schweigenden deutschen Normalbürgern, bei denen sie auf keine Empathie gestoßen wären. Wahrhaftig, eine teuer erkaufte Integration.
    Wenn jetzt eine Neuausgabe von H aben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten zusammen mit dem wenige Jahre später veröffentlichten Buch H aben Sie davon gewusst? Deutsche Antworten erscheint, sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass Kempowski diese beiden Bücher als integralen Bestandteil seiner »D eutschen Chronik« begriffen hat– wohl deshalb, weil er sein Erzählen der Familiengeschichte um die Perspektive auf die kollektive Mentalitätsgeschichte erweitern wollte. In Kempowskis Worten: »D em Leser meiner Romane… wird durch die ›Befragungsbücher‹, wie man sie nennen könnte, eine allgemeinere, ja chorische Begleitung und Erklärung an die Hand gegeben. Mag er die Romane für zu privat oder die ›Befragungsbücher‹ für zu allgemein halten: In der Gegenüberstellung beider liegt die Wahrheit verborgen, ist die Antwort zu suchen auf die Frage: Wie konnte es geschehen?«
    Mit einem für ihn nicht untypischen Understatement hat Walter Kempowski die beiden Bände an anderer Stelle als »d emoskopisches Element« seiner C hronik bezeichnet. Sie sind weit mehr als das. Mit diesen beiden Bänden hat er uns ein kleines, aber kostbares Archiv von Stimmen hinterlassen, das die Bewusstseins- und Verdrängungslage der damaligen Generation deutlich beleuchtet. Es war seine, uns zur Verfügung gestellte »M öglichkeit, mit einer Sonde sich Zugang zu verschaffen zum gegenwärtigen Bewusstseinsstand unseres Volkes«.
    Ein Archiv von Stimmen– Kempowski hat dieses Archiv in späteren Jahren gewaltig erweitert, hat ihm in den Bänden seines E cholots auf mehreren tausend Seiten eine unverwechselbare Gestalt gegeben. Nur eine Seite– »S tatt eines Vorworts«– stammt darin von ihm selbst. Sein Motiv für das lebenslange Sammeln von Stimmen können wir durchaus als bleibende Aufforderung an uns lesen: »W ir sollten den Alten nicht den Mund zuhalten, wenn sie

Weitere Kostenlose Bücher