Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt
wie es noch an seinen angestrahltesten Stellen tatsächlich war, die hilflose– oder verstockte– Meinung zutage, die grausige Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus sei nicht sein wirklicher, sein wahrer Kern gewesen. Zumindest, und das ist die zweite » Entschuldigung«, hätten mit seiner » Entartung« wir selbst nichts oder nicht eigentlich zu tun.
Wenn ich » wir« sage und von » uns« spreche, so sind natürlich nur die dazuzuzählen, die vor der Mitte der zwanziger Jahre geboren sind, die heute mehr als Fünfzigjährigen. Das ist weniger als die Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik. Jedes Jahr werden es weniger. Die anderen waren zu der Zeit, als der Weimarer parlamentarisch-demokratische Rechtsstaat seinen Feinden erlag, und nachher noch Kinder, oder sie waren überhaupt noch nicht auf der Welt. Für sie wäre das Unheil, das sich 1933 zwischen » Maas und Memel, Etsch und Belt« mit imperialistischer Expansionstendenz etablierte und sodann in kürzester Frist mit Folgen in allen Erdteilen Europa überzog, nichts als ein nationalistisches Lehrstück. Aussagen wie die hier vorliegenden haben darin ihren politisch-psychologischen Wert, man kann daraus lernen. Der theoretische Geschichtsunterricht genügt jedoch nicht. Mit der Frage, warum und wie die Eltern und Älteren in den Nationalsozialismus verstrickt waren, sich selbst in ihn verstrickt haben mögen, müssen die Nachfahren, die nicht selbst » mit dabeigewesen« sein konnten, gründlicher sich befassen: denn rings um Deutschland und darüber hinaus leben Millionen von Angehörigen derer, die der nationalsozialistische Terror unterdrückt, ausgebeutet, verjagt, verschleppt und getötet hat, Millionen, die ihrerseits, auch wenn sie versöhnungsbereit sind, nicht einfach vergessen können, was war. Ängstlich oder mißtrauisch, jedenfalls aufmerksam beobachten sie, welche Übereinstimmungen und welche Unterschiede zwischen den Deutschen von damals und den jüngeren, den jungen Deutschen von heute bestehen. Die Erklärungsgründe, die die einen für die anderen vorbringen, müssen verstehbar sein.
Die Kenntnis, die » das Archiv« vermittelt, hat somit Verständnis- und Verständigungswert.
Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ende des NS -Regimes sollte im übrigen, inmitten der neuen Weltverhältnisse, die für die Deutschen in der Bundesrepublik wahrlich nicht belastend sind, die Distanz zu ihm groß genug sein, allen den Mut zu ermöglichen, das, was war, wie es war, kritisch zur Kenntnis zu nehmen, damit es sich niemals so oder ähnlich wiederholen kann.
Die gesammelten Aussagen sind in einem Punkt allesamt gleich aufschlußreich: daß es außerordentlich schwierig, ja in der Regel unmöglich ist, in modernen Diktaturen, wenn man ihnen nicht rechtzeitig und von Anfang an kollektiv und individuell widersteht, sich der Mitverantwortung zu entziehen. Art und Grad der Mitschuld sind verschieden, häufig genug besteht sie aus– begründbaren– Unterlassungen dessen, was erforderlich wäre; sie ist bei den Nichtaktivisten der Unrechtsregime nur selten nicht eingebettet in zumindest versuchte » Ausgleichstaten« und in ein mehr oder minder schlechtes Gewissen.
Viele von denen, die sich in den » Deutschen Antworten« äußern, sind indes offensichtlich naiv geblieben– außerstande anscheinend, selbst jetzt die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Manchmal kennzeichnen saloppe Obenhin-Redensarten, einige erschreckend, die bestehengebliebene Unaufgeklärtheit. Alle Kapitel des Buches zusammen müßten da zur Abhilfe beitragen können.
Fest steht unbezweifelbar: Es hat von 1933 bis 1945 trotz der Geheimhaltungs-, der Lügen-, Propaganda- und Unterdrückungspolitik der Nationalsozialisten so gut wie niemanden, nahezu niemanden welcher Gesellschaftsschicht immer, im Deutschen Reich gegeben, der nicht in irgendeinem Punkt vom Unrechts- und Willkürcharakter des NS -Regimes, ja von seiner Unmenschlichkeit gewußt oder erfahren hätte: von den Gewalttaten der SA , der Herrschaft der SS und der Geheimen Staatspolizei, vom Spitzel- und Denunziationssystem, von der gesetzwidrigen Verhaftung vermeintlicher und tatsächlicher politischer Gegner, von ihrer Einlieferung in Konzentrationslager, von den Zuständen dort, von den Erschießungen am 30. Juni 1934, von den erzwungenen Gleichschaltungen, von der um sich greifenden Korruption der NSDAP -Funktionäre, von der Rassengesetzgebung, der » Kristallnacht«, den » Arisierungen«, der Isolierung, der
Weitere Kostenlose Bücher