Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
durch Kork ersetzt, ein Zimmer perfekt eingerichtet, Kleidung für einen Jungen angeschafft. Saskia hatte es irgendwann aufgegeben, Anna von dergleichen Aktivitäten abzuhalten. Wirklich Angst hatte sie aber erst bekommen, als Lars ihr vor drei Tagen berichtet hatte, dass Anna ihn darum gebeten hatte, alle Katzen vom Hof zu entfernen.
Da wäre Saskia beinahe vom Hof geflüchtet. Sie hatte es zwar nicht übers Herz gebracht, aber eine Entscheidung getroffen. Sobald das Kind auf der Welt war, würde sie sich eine Wohnung in der Stadt suchen. Und das musste sie Anna noch vor der Geburt mitteilen. Es wäre unfair, noch länger damit zu warten. Das hatte Anna nicht verdient.
Es fiel ihr schwer. Viel schwerer, als sie es sich vorgestellt hatte. Eine Viertelstunde saß sie nun schon in der Küche
und beobachtete Anna beim Abwasch. Fünfzehn lange Minuten, in denen sie nach dem ersten Wort suchte und Bauchschmerzen davon bekam. Saskia knetete ihre Finger, Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Abermals sah sie zu dem breiten Rücken auf, der sich vor dem Gegenlicht des Fensters als Umriss abhob, räusperte sich und begann stockend: »Anna …«
Anna drehte sich nicht um. Sie wusch weiter ab und sagte:
»Ja, Kindchen, was gibt’s denn?«
»Ich … Wir, wir müssen mal miteinander sprechen. Über … über die Zeit nach der Geburt. Wie es dann weitergehen soll.«
Anna drehte sich noch immer nicht um.
»Ach, mach dir darüber keine Sorgen. Wir beide schaffen das schon. Du suchst dir eine Arbeit in der Stadt, und ich kümmere mich um meinen kleinen Hosenscheißer.«
Da war es wieder!
Mittlerweile machte es Saskia wütend, wenn Anna so sprach. Je näher der Geburtstermin rückte, desto häufiger sagte sie Mein Hosenscheißer, mein kleiner Schatz, mein Kindchen . Nicht unser, nicht Saskias, nein, ihr Kind! Dass sie es auch jetzt wieder tat, half Saskia zu sagen, was gesagt werden musste.
»Das ist es ja gerade. Ich werde mir eine Arbeit in der Stadt suchen … und eine Wohnung. Mein Kind soll mit mir zusammen in der Stadt aufwachsen.«
Jetzt war es endlich heraus. Aber anders, als Saskia geglaubt hatte, wurden die Bauchschmerzen nicht weniger, sondern plötzlich noch schlimmer. Sie zogen sich bis in den Unterleib hinein und ließen sogar den Stumpf ihres Fingers pochen.
Anna verharrte einen Moment regungslos. Deutlich konnte Saskia sehen, wie schwer sie atmete, denn die Fleischmassen an ihrem Rücken spannten die weiße Bluse fast bis zum Zerbersten. In der Küche entstand plötzlich eine Atmosphäre, die jeglichen Sauerstoff aufzusaugen schien. Saskia öffnete den Mund, japste nach Luft. Schweiß schoss ihr plötzlich aus allen Poren.
Anna ließ ihre Hände über dem Spülbecken abtropfen und drehte sich dann langsam um. Dabei geriet ihr Gesicht in den Schein der Küchenlampe. Was Saskia zu sehen bekam, ließ ihren Magen verkrampfen und ihr Herz aussetzen. Das war nicht mehr Anna Schneider! Vor ihr stand Ellie Brock! Zu der Wut, die in dem feisten, vom warmen Abwaschwasser geröteten Gesicht zu sehen war, wäre Anna niemals fähig gewesen.
Stille.
Ein langer Blick aus reglosen Augen.
»Du nimmst mir mein Kind nicht weg. Du nicht!«
Der Satz war nur geflüstert, gezischt, und Saskia war sich nicht sicher, ob sie ihn wirklich gehört hatte. Denn im selben Augenblick schoss ein scharfer Schmerz durch ihren Körper. Sie krümmte sich auf der Eckbank zusammen und schrie laut auf. Der Schmerz sammelte sich in ihrem Unterleib, wurde unerträglich, zeitgleich rann eine warme Flüssigkeit zwischen ihren Beinen hinab. Das Fruchtwasser!
Aus nebulöser Entfernung hörte sie Anna hektisch rufen.
»Es geht los … bleib ganz ruhig, ich hol den Wagen vor die Tür … bleib sitzen, wir fahren sofort los.«
Und auf dem langen Weg ins Krankenhaus, während die Wehen sie quälten, und auch später, als sie im Kreißsaal
lag, die Beine weit gespreizt, und spüren konnte, wie der kleine Kopf sich langsam durch die viel zu enge Öffnung schob, und Anna, die an ihrer Seite stand und ihre Hand quetschte, immer wieder sagte: Weiter, weiter, wir schaffen das, bring mir meinen kleinen Jungen zurück! , als Saskia sich in einer Welt aus Schmerzen befand und kaum mehr klar denken konnte, hallte dieser eine Satz durch ihren Kopf, von dem sie nicht wusste, ob sie ihn wirklich gehört hatte.
Du nimmst mir mein Kind nicht weg! Du nicht!
Noch lange nicht zu Ende …
1. Auflage
Originalausgabe Februar 2010
Copyright © 2010
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