Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
kennengelernt, hatten viele Abende mit ihr verbracht und anfangs einige Nächte auf dem Hof, in denen an Schlaf nicht zu denken gewesen war. Sie hatten über vieles gesprochen, intime Gespräche über Gefühle, über Liebe und Verlust. Es waren Gespräche gewesen, die sich nicht in wenigen Worten zusammenfassen ließen, mitunter waren es auch genau die Worte, die nicht gesprochen worden waren, sondern Blicke, Schweigen und Tränen gewesen, die viel mehr
bedeutet hatten. Und weil Derwitz all das fehlte, erschien es Uwe als viel zu anstrengend, vielleicht sogar unmöglich, es ihm zu erklären.
»Anna hat sie darum gebeten«, sagte er stattdessen. »Und wohin hätte sie auch gehen sollen, ohne Eltern und Verwandte?«
Für eine Sekunde wirkte Derwitz, als wolle er dazu etwas sagen, dann starrte er aber in seine Kaffeetasse und nickte nur. Sie schwiegen. Ließen ihre Blicke durch die Cafeteria wandern und hingen kurz ihren eigenen Gedanken nach. Bis Derwitz schließlich sagte: »Wie sieht es aus? Willst du die Neuigkeiten hören, bevor die beiden kommen?«
»Immer raus damit.«
Derwitz lehnte sich zurück, griff nach der Schachtel Zigaretten in der Innentasche seiner Jacke, erinnerte sich dann aber an das Rauchverbot hier drinnen und ließ sie stecken. Seine Finger spielten stattdessen mit dem Kaffeelöffel, während er berichtete.
»Wir haben jetzt so gut wie alles beieinander. Es war nicht ganz einfach, und ein paar Fragen werden wohl immer unbeantwortet bleiben, aber das Wesentliche ist geklärt. Das verdanken wir einem SEK-Beamten im Ruhestand, der damals dabei gewesen war. Er konnte sich noch lebhaft an den Fall erinnern. Kannst du dir vorstellen, wie er ihn nannte?«
Uwe schüttelte den Kopf.
»Den Blair-Witch-Einsatz. Nach einem Film, in dem es um Hexen oder so geht.«
»Kenne ich. Ziemlich beängstigender Film. Passt auch irgendwie dazu.«
Sie wechselten einen Blick, der keiner Worte bedurfte.
Vieles an der Sache war ungereimt, unerklärlich, und alle, die damit zu tun gehabt hatten, hatten sich scheinbar stillschweigend darauf geeinigt, es dabei zu belassen. Es war schon beeindruckend, wie Menschen reagierten, wenn sie mit Dingen konfrontiert wurden, welche die Grenzen des Verstandes sprengten. Uwe war froh, dass es so war. Er hatte keine Lust und keine Kraft, sich eingehender damit zu beschäftigen. Vielleicht gab es Hexen, vielleicht nicht. Vielleicht war Ellie Brock in der Lage gewesen, andere Menschen zu beeinflussen, auf eine Art und Weise, die wissenschaftlich nicht zu erklären war, vielleicht war das alles aber auch nur Zufall gewesen.
»Dank seiner Aussagen konnten wir einen relativ genauen Ablauf der Geschehnisse erarbeiten«, fuhr Derwitz fort. »Nachdem die Brock ihren Mann getötet hatte, flüchtete sie und schaffte es tatsächlich, drei Jahre lang unentdeckt zu bleiben. In dieser Zeit hat sie den Jungen zur Welt gebracht, soweit wir wissen ohne ärztliche Hilfe. Als das SEK zum Einsatz kam, lebte sie mit dem Jungen in einer aufgegebenen Jagdhütte tief im Taunus. Für deutsche Verhältnisse weitab der Zivilisation.«
»Ein einsames Haus mitten im Wald«, sagte Uwe leise.
»Ja, richtig. Die Brock soll dort fast autark gewesen sein. Hat Gemüse angebaut, Wild gejagt und wohl hin und wieder auch irgendwo etwas eingekauft, wenngleich sich in den umliegenden Orten keiner an sie erinnern konnte. Na ja, wie auch immer, als die Landesforstbehörde diese Hütte wieder aktivieren wollte, ist sie aufgeflogen. Da sie auf die ersten Versuche, mit ihr zu reden, mit Gewalt reagiert hat, kam schließlich das SEK zum Einsatz. Sie soll sogar auf einen Förster geschossen haben, bestätigt ist das aber nicht. Aber du kennst die Jungs ja. Die gehen kein Risiko
ein. Die Brock hat das volle Programm bekommen. Hubschrauber, Tränengas und so weiter.«
»Und an dem vollen Programm ist Sebastian viele Jahre später gestorben«, sagte Uwe mit einer Stimme, die vor Zynismus nur so troff.
»Das wissen wir nicht«, sagte Derwitz.
»Ach, hör doch auf! Du weißt selbst, was in dem pathologischen Bericht steht. Seine Lunge wurde in der Kindheit verätzt, seitdem litt er unter chronischem Asthma. Und jede Erinnerung an damals hat einen Anfall ausgelöst. In jener Nacht ist Sebastian an den Folgen dieses Einsatzes gestorben. Nicht Ellie Brock hat ihn getötet, sondern das Gas und die Erinnerung und der Umstand, dass er seinen Inhalator nicht dabeihatte.«
»Ja, vielleicht, aber macht das jetzt noch einen
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