Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
schmerzerfüllte und leidvolle Monate hatte Anna jetzt in Krankenhäusern verbracht. Sie hatte die Nachricht vom Tod ihres einzigen Kindes im Krankenhaus erhalten und seiner Beerdigung nicht beiwohnen können. Kurz darauf war sie in eine Spezialklinik für Hautverpflanzungen verlegt worden und wäre dort beinahe gestorben. Sie hatte einfach keine Kraft, keinen Lebensmut mehr gehabt. Die Ärzte hatten sie beinahe schon aufgegeben. Als sie nach drei Wochen von dort in eine Reha-Klinik verlegt werden sollte, hatte Saskia sie vorher besucht. Und dieser Besuch hatte etwas verändert. Anna hatte sie ganz eigenartig gemustert, hatte sie fest an sich gedrückt und gar nicht mehr loslassen wollen. Plötzlich hatte sie von der Zukunft gesprochen, vom Schneiderhof, von der Zeit, die sie gemeinsam dort verbringen würden. Sie hatte Saskia inständig darum gebeten, hatte gefleht und gebettelt, so lange auf dem Hof zu bleiben, bis sie selbst dorthin zurückkehren konnte. Nach dem dreiwöchigen Aufenthalt in der Reha-Klinik hatte Anna zunächst noch ein paar Tage im Krankenhaus verbringen müssen, aber heute war der große Tag gekommen, an dem sie entlassen wurde.
Die Zimmertür stand offen, als Saskia sie erreichte. Anna stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Fenster und blickte hinaus. Im Gegenlicht konnte Saskia nicht mehr erkennen als ihren Umriss. Plötzlich erinnerte sie sich an jenen
gewaltigen Umriss in der Tür zu der Kammer, in der Ellie Brock sie gefangen gehalten hatte. Riesig, bedrohlich, Angst einflößend. Saskia schüttelte den Kopf, um die Bilder zu vertreiben. Der Stumpf ihres Fingers pochte unangenehm.
Anna bemerkte sie und drehte sich um.
»Mein Kind, da bist du ja endlich!«
In der Mitte des Zimmers trafen sie sich und fielen sich in die Arme. Saskia legte den Kopf an Annas Schulter und schloss die Augen. Eine, vielleicht zwei Minuten standen sie so da, bevor sie sich voneinander lösten.
»Wie geht es euch beiden?«, fragte Anna.
»Uns beiden?«, fragte Saskia verblüfft.
»Na ja …«, sie stockte kurz, »dir und Uwe meine ich.«
»Es wird schon … doch, bestimmt, es wird immer besser«, sagte Saskia.
Anna sah ihr tief in die Augen. »Wollen wir nach Hause gehen?«, fragte sie.
Und Saskia nickte.
Sieben Monate später
Der errechnete Geburtstermin war der 29. Februar.
Heute!
Anfangs war es Saskia so vorgekommen, als ob die Zeit gar nicht vergehen würde, als wären die sechs Monate, seitdem der Arzt es ihr und Anna definitiv per Ultraschalluntersuchung bestätigt hatte, eine Ewigkeit. Aber jetzt, wo der Tag gekommen war, das Kind sich aber noch nicht bemerkbar machte, verging die Zeit viel zu schnell. Einerseits freute Saskia sich, andererseits hatte sie Angst vor der Geburt und ihrem weiteren Leben danach. Eine Entscheidung musste getroffen werden, und so, wie es aussah, würde sie einem Menschen damit sehr wehtun.
In den letzten Wochen hatte Saskia mehrfach versucht, mit Anna darüber zu sprechen, weit gekommen war sie jedoch nicht. Wenn es nach Anna ginge, würde sie den Rest ihres Lebens auf dem Schneiderhof verbringen. Aber Saskia hatte in den zurückliegenden Monaten am eigenen Leib erfahren, was Sebastian damals gemeint hatte, als er sagte, dass der Hof eine eigene Welt war, in der man Gefahr lief, die andere zu verpassen.
Es war einsam! Auch schön, ja, aber vor allem einsam. Sebastian war nicht vergessen, würde es niemals sein, schließlich war es sein Kind, sein Nachlass an die Welt. Aber Saskia sehnte sich nach anderen Menschen, nach anderen Männern. Eines Tages musste sie einen lebendigen Vater für ihr Kind finden, musste finden, was Sebastian
nicht mehr sein konnte. Und das ging nicht auf dem Schneiderhof. Vor allem ging es nicht, solange sie bei Anna blieb!
Anna hatte sich noch stärker verändert.
Nicht nur, dass sie über die Maßen fett geworden war, sie machte sich auch stets übertriebene Sorgen, ließ Saskia kaum mal etwas allein tun, sperrte sie sinnbildlich auf dem Hof ein, kümmerte sich um alles und verhielt sich mitunter wie ein herrischer Despot. War Saskia anfangs noch überzeugt gewesen, dass es einfach nur lieb gemeint war, dass Anna aufgrund des Erlebten nicht anders konnte, so empfand sie es mittlerweile nur noch als absonderlich und kaum erträglich.
Schon seit Wochen war im Haus alles entfernt, was dem Kind gefährlich werden konnte. Alle Steckdosen waren gesichert, die Treppe oben und unten vergittert, die kalten, harten Fliesen in der Küche und der Diele
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