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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Riedelsberger, hatte einen Anwalt zu stellen, und es war Oltmanns’ Wille, dass Sebastian diesen Fall übernahm. Man schlug dem alten Fuchs keinen Wunsch ab, nicht, wenn man soeben sein Studium beendet hatte und in einer der besten Kanzleien der Stadt Karriere machen wollte. Und immerhin hatte Oltmanns ihn damals gewarnt. Sie können sich bei uns auf Arbeits- und Vertragsrecht spezialisieren, aber wenn ich es will, dann vertreten Sie Ted Bundy oder noch schlimmeren Abschaum, und zwar mit hundertfünfzig Prozent Einsatz. Vor ihm saß kein Massenmörder wie Bundy, aber der Unterschied war doch rein mathematischer Natur, oder? Die Schwelle war übertreten, der Weg dahinter eben und voller Verlockungen.
    Trotzek sah ihn noch intensiver an als vorher, senkte dann aber den Blick und betrachtete seine Handschellen.

    »Wie wollen Sie mir helfen?«
    Sein Sie schien Sebastians gesamte Kompetenz in Frage zu stellen.
    »Da gibt es viele Möglichkeiten.«
    »Mord bleibt Mord.«
    Innerlich stimmte Sebastian ihm sofort zu, aber das Gesetz sah es etwas differenzierter. Er lehnte sich vor und nahm endlich den Koffer vom Tisch.
    »Mord ist nicht gleich Mord. Wir können auf Totschlag plädieren, auf Unzurechnungsfähigkeit … Es gibt immer Möglichkeiten. Natürlich bleibt es ein Verbrechen, für das Sie in Vollzug müssen, aber der Unterschied kann durchaus zehn Jahre betragen. Das sollten Sie bedenken, bevor Sie meine Hilfe ablehnen.«
    Während er sprach, rückte Sebastian sogar näher an den Tisch heran und damit auch näher an die untere Grenze der persönlichen Distanz, kaum noch zu unterscheiden von dem intimen Bereich. Erstaunlich, wie leicht es ihm fiel, nachdem das Gespräch jetzt erst einmal eröffnet war. Kommunikation war eben doch das mächtigste Schwert der Zivilisation.
    Trotzek schüttelte kaum merklich den Kopf, starrte ihn aus seinen rot geränderten Augen an. Da war er wieder, dieser intensive, unangenehme Blick.
    »Er hat es verdient.«
    »Das ist für das Urteil nicht relevant. Die Frage ist …«
    »Sie verstehen das nicht«, unterbrach Trotzek ihn. »Er hat es verdammt noch mal verdient, in der Hölle zu schmoren, und ich werde mich nicht rausreden.«
    Trotzek hatte die Stimme erhoben und die kurze Kette zwischen seinen Handgelenken straff gespannt. Sebastian zog sich zurück, warf einen schnellen Blick zu dem kleinen
Fenster in der Tür, durch das der Vollzugsbeamte sie eigentlich beobachten sollte – es gerade jetzt aber nicht tat.
    »Aber er war doch Ihr Vater.«
    Die Kette entspannte sich, Trotzeks Hände sanken auf die Tischplatte. Er presste die Lippen zu blutleeren Strichen zusammen und nickte schwerfällig.
    »Ja, er war mein Vater. Und darum können Sie mir nicht helfen. Lassen Sie mich in Ruhe.«
     
    Im Dorf sagten die Leute Da oben , wenn sie den Schneiderhof meinten, und Die da oben , wenn sie über die Schneiders sprachen. Das lag zum einen an der geografischen Lage und Entfernung – von Bentlage führte die schmale Straße über vier Kilometer stetig aufwärts und überwand dabei einen Höhenunterschied von dreihundertsiebzig Metern -, zum anderen aber auch an der zurückgezogenen Art und Weise, in der die Bewohner zu leben pflegten. Sie waren keine Eremiten, beschäftigten ab und an auch Hilfskräfte aus dem Ort, aber sie waren Eigenbrötler, verdienten Geld mit der Aufzucht und dem Verkauf von Hannoveranern, wovon in dieser Gegend kaum jemand etwas verstand, und das reichte für viele, um immer wieder Gerüchte in die Welt zu setzen. Inzest, Satanskult, Orgien – die Klatschmäuler hatten aus dem Vollen geschöpft. Es war wie überall auf der Welt, wenn dumme Menschen auf Spekulationen angewiesen waren.
    Während der Schulzeit hatte es Tage gegeben, an denen Sebastian Schneider darunter gelitten hatte (Kinder waren grausamer als Erwachsene, wenn es darum ging, mit Worten zu Felde zu ziehen), heute interessierte es ihn nicht mehr. Menschen gewöhnten sich an alles. Außerdem spürte
er mit jedem Tag, an dem er zwischen dieser Welt und jener in der dreißig Kilometer entfernten Stadt pendelte, die Bindung zum Hof enger werden. Eigentlich hatte er genau das Gegenteil erwartet.
    Es war achtzehn Uhr vorbei, als die weißen Zäune hinter der letzten Kurve auftauchten. Sie begleiteten die Straße ein Stück weit, flossen mit den sanften Hügeln dahin, tauchten in Täler ab, um sich bald wieder aus ihnen zu erheben. Durch einen Windbruch, Überbleibsel des letzten großen Herbststurms, sah

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