Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
dachte.
»Du hättest auf dem Hof bleiben sollen«, sagte Anna und schüttelte den Kopf.
Ihr immer noch kräftiges, silbergraues Haar fiel ihr in die Stirn. So konnte Sebastian ihre Augen nicht sehen, was aber auch nicht nötig war, wusste er doch um den missbilligenden Ausdruck darin. Wäre es damals nach ihr gegangen, hätte er Agrarwissenschaften studiert, den Hof übernommen und die gut laufende, einträgliche Hannoveranerzucht noch ausgebaut. Aber dann wäre er niemals hier weggekommen.
Er ging auf ihren Vorwurf nicht ein, dieses Thema hatten sie zu oft durchgekaut.
»Warum hat er seinen Vater getötet?«, wollte Edgar wissen.
»Ich weiß es nicht.«
»Er muss doch einen Grund gehabt haben.«
»Den hatte er bestimmt, aber er spricht nicht darüber, verweigert jede Aussage. Er will ja nicht mal einen Anwalt. Das Gericht hat unsere Kanzlei dafür bestellt.«
»Aber warum ausgerechnet dich?«, warf Anna ein.
»Es ist mein Beruf. Ich kann es mir nicht aussuchen.«
Edgar stocherte in seinem Essen herum. Ohne aufzublicken sagte er: »Wenn ohnehin feststeht, dass er schuldig ist, wozu braucht er dann einen Anwalt? Sollen sie ihn doch ins Gefängnis stecken.«
»Auch ein Mörder hat das Recht auf eine Verteidigung.«
»Vatermörder«, verbesserte Edgar ihn, »und so ein Recht taugt nichts.«
Sebastian schluckte eine Erwiderung mit der nächsten
Gabel runter. Auch wenn sein Vater kein genereller Verfechter der Todesstrafe war, würde er sie wohl in manchen Fällen trotzdem befürworten. Hätte Trotzek zum Beispiel eine Frau getötet, sie vorher vielleicht noch vergewaltigt, wäre für Edgar der Tod die einzig angemessene Strafe gewesen. Sebastian fürchtete schon jetzt den Tag, an dem er einen solchen Fall übernehmen müsste.
Eine Weile aßen sie schweigend. Erst als die Teller leer waren, sagte Anna: »Auf der Treppe liegt übrigens Post für dich.«
»Ich hab’s gesehen.«
»Ein violetter Umschlag.« Anna lächelte verschmitzt. »Zu meiner Zeit benutzten nur Verliebte solche Umschläge.«
Das war Sebastian gar nicht aufgefallen. Ein violetter Umschlag? Zurzeit gab es in seinem Leben niemanden, der Grund hätte, solche Umschläge zu benutzen. Er stand auf, ging zur Treppe und holte den Brief. »Ohne Absender«, sagte er und setzte sich wieder an den Tisch.
Sein Name und seine Adresse waren mit einer Schreibmaschine getippt, die Klappe zusätzlich mit Tesafilm verklebt. Die ungewöhnliche Farbe des Umschlags rief Erinnerungen in ihm wach. Insa hatte Briefumschläge in zarten Pastelltönen benutzt, sie zusätzlich aber noch einparfümiert. An diesem Brief roch nichts, außerdem würde Insa ihm sowieso nicht mehr schreiben. Ihr letztes gemeinsames Jahr an der Uni war nicht ihr bestes gewesen.
Unter den neugierigen Augen seiner Mutter öffnete Sebastian mit einem Messer den Umschlag. Ein einziges, in der Mitte gefaltetes, ebenfalls violettes Blatt befand sich darin. Er nahm es heraus, faltete es auseinander und las die wenigen Worte.
Hänschen klein ging allein
in die weite Welt hinein.
Stock und Hut stehn ihm gut,
ist ganz wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr.
Wünsch dir Glück, sagt ihr Blick,
kehr nur bald zurück.
Lieber Hans,
Viel Zeit ist vergangen.
Keinen weiteren Tag habe ich mehr zu
verschwenden.
Was ich tue, tue ich für uns, ich bin mir
sicher, dass du es eines Tages verstehen
wirst. Nicht sofort, das erwarte ich nicht,
aber denke bitte immer daran, dass ich es
aus Liebe tue.
Kein Name, keine Unterschrift. Nichts weiter als Worte, die keinen Sinn ergaben. Den oberen Abschnitt kannte Sebastian. Wer war nicht in der Schule mit diesem blöden Liedtext gequält worden, wer hatte nicht in endlosen Musikstunden die Tonfolge auf der Blockflöte üben müssen? Aber was sollte der Quatsch? Er nahm noch einmal den Umschlag zur Hand. Nein, keine Verwechslung, der Brief war eindeutig an ihn adressiert.
»Was steht drin?«, fragte Anna.
»Lies selbst.«
Er reichte ihr den Brief über den Tisch. Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie das Blatt Papier entgegennahm. Ihr Lächeln erfror schon bei den ersten Worten. Sebastian
entging der Schatten nicht, der sich über ihr Gesicht legte. Sie sah zu ihm auf, dann zu Edgar hinüber, der ebenfalls neugierig geworden war. Eine Eigenschaft, die ihm eigentlich fremd war.
»Was soll denn das bedeuten?«, fragte Anna.
»Ich habe keine Ahnung.«
Der Brief wanderte zu Edgar. Er las ihn schnell und ohne sichtbare
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