Härtling, Peter
Hölderlin diese Gefühle. Auch er liebt seine Mutter.
Darin ist auch der Grund zu suchen, das läßt Härtling immer wieder durchblicken, warum Hölderlin von Jena, von Frankfurt, Homburg, Bordeaux aus immer wieder nach Nürtingen zurückkehrt. Er kann sich seines Zuhauses sicher sein. Zwar wird er in Nürtingen niemanden finden, mit dem er über seine Gedichte sprechen kann oder der seine politischen Ansichten teilen würde. Gespräche dieser Art sucht er bei der Mutter nicht. Dafür mußte er nie daran zweifeln, ob er aufgenommen werden würde, und daß die in Gelddingen beschlagene Mutter immer dafür sorgen wird. Soviel Verläßlichkeit, Schutz und Wärme hat er sonst nirgendwo gefunden. Das festigt die Bindungen.
Die Nähe zur Mutter, das unterschlägt Härtling keineswegs, wirkt sich auch lebensvereitelnd aus. Er registriert die dauernden Ermahnungen, sich zu fügen und endlich Pfarrer zu werden, mit denen Hölderlin leben muß, aber er spricht ihnen eine weniger verkrümmende Wirkung zu. Für entscheidend hält Härtling die von Hölderlin nie gelösten und nicht zu lösenden Gefühle für die Mutter. Sie schlagen in jedem Verhältnis zu Frauen durch und machen seine Beziehungen zu Unternehmungen, die immer mit Abstürzen enden.
Suse, Hölderlins erste Freundin, läßt Härtling in einer für ihn typischen Manier auftreten. Hölderlin und sie lernen sich auf die Initiative des Mädchens kennen, sie ist es, die Hölderlin buchstäblich in die Büsche zieht. Die Initiative geht wie meist, wenn Härtling Lieben schildert, vom Mädchen oder der Frau aus. Dann jedoch, wenn er Hölderlin auch in der Liebe als ewig Zaudernden darzustellen beginnt, gewinnt die Figur ihre eigene Gestalt. Bis auf die Affaire mit Wilhelmine Kirms folgen seine Beziehungen zu Frauen einem festgelegten Ablauf. Hölderlin sehnt sich nach Nähe, doch sobald sie sich einstellt, löst sie in ihm Panik aus. Um nicht gleich davonzustürmen, verleugnet er Suse als »normale« Person und hebt sie auf ein Podest: Aus einem Mädchen wird ein himmlisches Wesen. Ihrer großen Schwester, der Frankfurter Gesellschaftsdame Susette Gontard, ergeht es nicht anders. Sie verwandelt sich für Hölderlin in Diotima. Nähe, das zu veranschaulichen legt Härtling großen Wert, beginnt in Unnahbarkeit umzuschlagen. Damit vermag Hölderlin seinen Abgrenzungsreflex, den Nähe in ihm weckt, noch für einige Zeit unter Kontrolle zu halten, und gleichzeitig schafft er sich ein Alibi, wenn er nicht mehr anders kann, als zurückzuweichen. Diese erhabenen Geschöpfe sind doch für ein niederes Wesen wie ihn keinesfalls geschaffen! Seine Ängste gegenüber Frauen müssen dieser Hölderlin-Figur sogar als begründet erscheinen. Er ist der Unterlegene, Minderwertige und seine Rückzüge erhalten damit noch den Glanz höherer Notwendigkeit. Für Härtling befindet sich Hölderlin in einem zerstörerischen Zirkel, indem er immer wieder von neuem seine Sehnsüchte entfacht und sich von deren Befriedigung abschneidet.
Bei diesen abgründigen Lieben ist die Mutter als dritte Person immer anwesend. Sie hat die Spur gelegt, der Hölderlin, ohne sie zu kennen, folgt. Der christliche Idealverbund, die heilige Familie, liefert die Vorlage, nach der sich diese Mutter und dieser Sohn begegnen. Deutlich findet sich hier in der Realität eine Konstellation ausgeprägt, die sich als wichtigstes Motiv in Hölderlins Dichtung wiederfindet: der Göttin Sohn. In keine andere Rolle als in diese zwingt ihn seine Mutter im besten Glauben, so Härtling, hinein. Deswegen ist er der bevorzugte, geliebte, heilig gesprochene Sohn. Im Gegenzug wird aber auch sie zu einer marienähnlichen Figur befördert. Und genau mit dieser geheiligten Aura umgibt er seine Frauenbekanntschaften: höchste Verehrung gekoppelt mit erotischem Verbot. Dieses Verbot zu durchbrechen, erzeugt Lust. Wird dieser Lust aber nachgegangen, beginnt sich ein Strudel von Ängsten immer rücksichtsloser zu drehen und Härtlings Hölderlin am Ende zu verschlingen.
Angedeutet ist damit auch, weswegen Hölderlin zu Männerfreundschaften so überaus begabt war. Härtling verdanken wir den Hinweis, daß Hölderlin in einer reinen Knaben- und Männerwelt großgeworden ist. Mädchen waren, außer in der Phantasie vielleicht, keine vorhanden. Nähe konnte nur mit den Mitschülern geteilt werden. Unter dieser Not konnte noch verborgen bleiben, was sich später bei Hölderlin klar zeigt. Die Freundschaft zu Sinclair mag in ihrer idealen
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