Härtling, Peter
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I
Die beiden Väter
Am 20. März 1770 wurde Johann Christian Friedrich Hölderlin in Lauffen am Neckar geboren –
– ich schreibe keine Biographie. Ich schreibe vielleicht eine Annäherung. Ich schreibe von jemandem, den ich nur aus seinen Gedichten, Briefen, aus seiner Prosa, aus vielen anderen Zeugnissen kenne. Und von Bildnissen, die ich mit Sätzen zu beleben versuche. Er ist in meiner Schilderung sicher ein anderer. Denn ich kann seine Gedanken nicht nachdenken. Ich kann sie allenfalls ablesen. Ich weiß nicht genau, was ein Mann, der 1770 geboren wurde, empfand. Seine Empfindungen sind für mich Literatur. Ich kenne seine Zeit nur aus Dokumenten. Wenn ich »seine Zeit« sage, dann muß ich entweder Geschichte abschreiben oder versuchen, eine Geschichte zu schreiben: Was hat er erfahren? Wie hat er reagiert? Worüber haben er, seine Mutter, seine Geschwister, seine Freunde sich unterhalten? Wie sah der Tag mit Diotima hinter der geschriebenen Emphase aus? Ich bemühe mich, auf Wirklichkeiten zu stoßen. Ich weiß, es sind eher meine als seine. Ich kann ihn nur finden, erfinden, indem ich mein Gedächtnis mit den überlieferten Erinnerungen verbünde. Ich übertrage vielfach Mitgeteiltes in einen Zusammenhang, den allein ich schaffe. Sein Leben hat sich niedergeschlagen in Poesie und in Daten. Wie er geatmet hat, weiß ich nicht. Ich muß es mir vorstellen –
– das Geburtshaus war der ehemalige Klosterhof. Einen Tag später schon wurde das Kind getauft. Die eilige Taufe war üblich, denn man fürchtete um das Leben eines jeden Säuglings, auch der Mutter, und war darauf bedacht,die Neugeborenen in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen zu wissen. Es war das erste Kind der Hölderlins. Seine Mutter war im Jahre seiner Geburt zweiundzwanzig Jahre alt, sein Vater vierunddreißig.
Die Familie genoß Ansehen, sie hatte Geschichte und Vermögen. Das schwäbische Bürgertum war damals, mehr noch als heute, verbunden durch Verwandtschaft und Beziehung, durch gemeinsame Erinnerungen an Lateinschulen, Seminare, Gymnasien, die Universität. Man half sich, schätzte sich, haßte sich häufig insgeheim. Der Pietismus nötigte zu Demut und Bescheidenheit. Die Pfründen blieben unter Vettern und Basen, wofür sich der zärtlich-hämische Begriff von der »Vetterleswirtschaft« bildete.
Hölderlins Vater, Heinrich Friedrich, kam aus Lauffen, war auf eben demselben Klosterhof aufgewachsen, als dessen »Meister und geistlicher Verwalter« er nun wirkte. Er hatte die Lateinschule in Lauffen besucht, das Gymnasium, in Tübingen die Rechte studiert und 1762, nach dem Tod seines Vaters, den Klosterhof übernommen, wobei von einem Kloster nicht mehr die Rede sein konnte, denn das zu Beginn des 11. Jahrhunderts und zum Andenken an ein im Neckar ertränktes Grafenkind (weshalb ertränkt?) namens Regiswindis gegründete Kloster war in der Reformation säkularisiert und später abgebrochen worden, der Wirtschaftshof hingegen, stattlich und weitläufig, blieb erhalten.
Der Hofmeister Hölderlin muß ein wenig großspurig gewesen sein. Er kleidete sich aufwendig, lebte seinem Stand angemessen oder sogar darüber hinaus, schätzte feine Gesellschaft um sich und war ein beliebter Gastgeber. Vier Jahre stand er dem Haus als Junggeselle vor, wahrscheinlich gehütet und gehätschelt von Haushälterinnen. 1766 heiratete er die Tochter des Pfarrers Heyn aus Cleebronn, Johanna Christiana, ein frommes, wohl auch scheues Mädchen, das auf dem Bild, das der Mann sogleich von ihr malen ließ, eingeschüchtert und ahnungslos erscheint. Nur die großen Augen sehen unbefangen auf den Betrachter. Sie ist achtzehn, wird einbezogen in ein an Abwechslungen, Festen reiches Leben, das sie im väterlichen Haus nicht gekannt haben wird. Ihr Mann, sich und seinen Ruf bestätigend, beschenkt sie mit Schmuck, mit Kleidern.
Vier Jahre lang müssen sie auf das erste Kind warten. Die wachsende Ungeduld der Familie läßt sich ausmalen. Im Schwäbischen nimmt die Verwandtschaft Anteil; Johanna wird von ihrer Mutter befragt und beraten worden sein; die Eltern Heinrichs waren nicht mehr am Leben, doch wird es genügend ältere Onkel und Tanten, auch Vettern gegeben haben, die ihn, die Scherze lassen sich denken, derb auf die Vernachlässigung seiner ehelichen Pflichten hinwiesen.
Der Vater Johannas war kein Schwabe. Er kam von einem thüringischen Bauernhof, studierte jedoch Theologie in Tübingen, amtierte als Pfarrer erst in Frauenzimmern, dann
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