Härtling, Peter
zum alles beherrschenden Thema wird. Allerdings hat es Hölderlin seinen Zeitgenossen nicht zugetraut, Frieden und Freiheit zu stiften. Dazu bedurfte es einer geheiligteren Erscheinung, der »Göttin Sohn«. Daß Hölderlin in diesen Überhöhungen seiner Zeit voraus war, aber auch hinter sie zurückfiel, gehört zum Doppeldeutigen dieser Figur und ihrer zu vermutenden Realitätsnähe.
Aber mehr noch: Härtling zeichnet auch nach, warum sich Hölderlin zum politisch mutigen Denker und zaudernden Dichter entwickelte. Schon dem jungen Hölderlin wurde Unterordnung als Tugend und gottgefälliger Dienst nahegebracht. Äußerste Strebsamkeit im stillen und ein prinzipienstarker Glaube bildeten in dieser Spielart des schwäbischen Pietismus ein nicht zu entwirrendes Knäuel. Diese bürgerliche Oberschicht, die Beamten, Pfarrer, Professoren im Land, hatten sich vor Generationen schon ein perfekt arbeitendes Abrichtungssystem geschaffen, das jeden, der damit in Berührung kam, von Kindheit an formte. Unter den Eingeweihten reichte es aus, die Ortsnamen zu nennen: Denkendorf, Maulbronn, Tübingen. Das war der klassische Bildungsweg: niedere Klosterschule, höhere Klosterschule, Studium am Stift. Da die Mutter ihren Sohn fördern wollte und er sich gerne fördern ließ, entging er diesen Schulen nicht.
Dennoch macht sich Härtlings Hölderlin unsicherer auf den Weg durch eiskalte Schul- und Schlafsäle als viele seiner Klassenkameraden. Durch den Tod der beiden Väter, das kennt Härtling aus eigener Erfahrung, war Hölderlin in seine Verletzbarkeiten eingeweihter als sie. Dennoch tat er gut daran, geduldig zu lernen und sich den Grobheiten der Lehrer zu beugen. Er mußte vorankommen, die soziale Stellung, die sich als brüchig erweisen konnte, festigen, und die Mutter hatte gute Gründe, ihm vom Pfarrberuf vorzuschwärmen. Nach bürgerlichen Maßstäben galt er mit diesem Beruf als abgesichert.
Gehorsam gehörte zu Hölderlins erstem Pflichtfach, dem sozialen Trainingsgelände, auf dem er sich bewegen lernte. Zugleich zeigt Härtling, daß er die Gehorsamkeit als Schutzschild entdeckt hatte, hinter dem er, bestens verborgen, seinen Interessen nachgehen konnte: schreiben und lesen, was er wollte. Diese Tarnung wurde zu seiner zweiten Natur. Sie hinderte ihn daran, entschlossener für die Republik zu kämpfen und ihr nicht bloß zugeneigt zu sein. Aus dieser Tarnung zog er allerdings auch einen geistigen Gewinn, der ihn gefährlicher machte, als er geworden wäre, wenn er sich umstandsloser seinen republikanischen Freunden angeschlossen hätte.
Zur Dialektik des schwäbischen Pietismus, in die Härtling seinen Hölderlin verstrickt, gehört auch die Auflehnung. Mit wachsenden Sprachkenntnissen läßt ihn Härtling ein Griechenland voller Verheißungen kennenlernen. In seiner Vorstellung gab es dort blühende Haine, in denen der Geist sich ausbreiten konnte, ohne daß ihm Fesseln angelegt wurden – also das Gegenteil des alltäglichen Schuldrills. Und mit Hölderlin erfuhren in ihren kargen Klosterzellen auch die Klassenkameraden, unter ihnen Hegel und Schelling, von dieser sagenhaften Welt, die zunächst aus nichts als aus Wörtern und Phantasie bestand. Sie gab ihnen die Kraft, sich von den Vätern abzusetzen, allerdings ging die Rebellion dieser Generation, und da zeigt Härtling seinen Hölderlin wieder ganz als Kind seiner Zeit, weiter als die der Generationen vor ihr. Sie löste sich von den pietistischen Wurzeln mehr, als die Eltern es getan hatten, und sie konnte sich vor allem mit dem überlebten Adelsregime nicht mehr abfinden.
Besonders zeitig bringt Härtling den Schüler Hölderlin in Kontakt mit der zeitgenössischen Literatur. Schon in Maulbronn liest Hölderlin zum ersten Mal Schillers »Lied an die Freude«. Im Pathos von Versen wie »Duldet mutig, Millionen! / Duldet für die beßre Welt!« mußten sich er und seine Mitschüler in ihren Empfindungen unmittelbar angesprochen fühlen. Mutig dulden und das hieß, sich im Anpassen zu widersetzen, das wollten sie. Und mit »beßrer Welt« war keineswegs mehr das Jenseits gemeint. Dann entdeckte er Klopstock und Friedrich Christian Daniel Schubart, der auf dem Hohen Asperg eingesperrt war und damit wie Schiller zum leuchtenden Symbol für die Freiheit wurde. Als dann noch die Französische Revolution den Nachweis erbracht hatte, daß der Adelsherrschaft ein Ende gesetzt werden konnte, verließen auch Hölderlin und seine Freunde endgültig die pietistischen
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