Härtling, Peter
in Cleebronn. Aus einer der ehrwürdigsten schwäbischen Familien dagegen stammte Johannas Mutter, Johanna Rosina Sutor. Zu ihren Vorfahren zählte Regina Bardili, der nachgesagt wird, die »schwäbische Geistesmutter« zu sein, Ahnin von Hegel und Schelling, von Schiller, Mörike und Hölderlin.
Nach vier Jahren kommt Friedrich zur Welt. Der Fritz. Der Holder. Der Hölderle. Die Taufe muß, selbst wenn nicht alle Paten anwesend waren, ein gewaltiges Fest gewesen sein. Einer der wichtigsten Gäste, eine leitmotivische Figur, der Freund beider Väter, Oberamtmann Bilfinger, tat seinen Dienst damals noch in Lauffen, erst später in Nürtingen und Kirchheim.
Lang dauerte das Glück nicht. So hochgemut der Vater lebte, so gefährdet war er. Die Geburt einer Tochter freute ihn noch, doch am 5. Juli 1772 starb er an einem Schlaganfall, wie manch anderer aus seiner Familie, »schlagflüßige Leute«. Er war sechsunddreißig Jahre alt geworden. Gut einen Monat später brachte Johanna das dritte Kind zur Welt, Maria Eleonora Heinrike, »die Rike«, die Schwester. Die Ratlosigkeit der jungen Witwe wird übermächtig gewesen sein, die Tränen, der Trost der Verwandten, die Lektüre von ihr unverständlichen Papieren, wobei wahrscheinlich Bilfinger und ihre ebenfalls verwitwete Schwägerin, Frau v. Lohenschiold, zu der sie mit den Kindern gezogen war, geholfen haben. Der Dreijährige ist unruhig. Man hält ihn an mitzubeten, die Hilfe des Herrn zu erflehen, denn der Glaube half Johanna Hölderlin, die pietistische Selbstbescheidung. Sie ließ davon nicht ab, bis zu ihrem Ende. Der Fritz, noch weniger Worte mächtig, still und wohlerzogen, ist vom allgemeinen Leid eingeschüchtert. Er hört sie reden, klagen und dies, was von den Interpreten meist vergessen wird, nicht auf Hochdeutsch, sondern im Dialekt, der seine Verse später oft merkwürdig einfärben wird.
Vielleicht hat sich Johanna Hölderlin noch als alte Frau die Verluste, Namen für Namen, Datum für Datum aufgezählt. Sie hätte an ihrem Gott zweifeln können, doch nach allem, was man von ihr weiß, hat sie sich ihm gebeugt. Was sind das für jähe Abbrüche: eben noch die Herrin eines großen Hausstandes, dann ein unvermuteter Tod, der Abschied von diesem Anwesen, das sie für einLeben hätte aufnehmen sollen; mit vierundzwanzig Jahren Witwe, Mutter dreier Kinder, Erbin eines nicht unbeträchtlichen Vermögens. Sie durfte an nichts anderes denken als an eine neue Häuslichkeit, einen neuen Gefährten, denn mehr wußte sie nicht, hatte sie nicht gelernt. Ihr Vater, der Pfarrer Heyn, starb zwei Monate nach dem Mann.
Ihre Erscheinung war gewiß von Reiz, jugendlich, »voller Anmut« und dem unbeholfen gemalten Porträt aus dem Jahre 1767 ist abzulesen, wie in sich gekehrt sie war, einem dauernden Schmerz zugewandt, nicht ohne Lust an einer wortarmen Melancholie. »Geistig« sei sie nie gewesen, heißt es, doch überaus gütig. Es fragt sich, was mit geistig gemeint sei. Zwar war sie den Ausbrüchen des Sohnes nicht gewachsen, aber sie hat alle seine Gedichte gelesen, und diese Stimme war ihr vertraut; hochfliegenden Unterhaltungen wird sie schweigend zugehört haben. Sie dachte nicht in Metaphern. Sie dachte in engen Wirklichkeiten, wünschte, daß er Pfarrer werde. Sie war zum Dienen erzogen worden. Für eine Frau gehörte es sich so, und Gottes Wille war ihr ohnehin Gesetz.
Jetzt sitzt sie aber noch da, bei der Schwägerin Lohenschiold, und lebt ihren Jammer aus. Das kann sie. Der Sohn hatte sie später manchmal gemahnt, sie solle sich nicht derart in ihren Schmerz verbeißen. Sie wartet. Sie hat das Warten noch nicht gelernt. Die Kinder lenken sie ab: die Töchter müssen versorgt werden, und Fritz ist, wie alle Dreijährigen, ständig auf Erkundung, reißt Schubladen auf, zieht an Tischdecken, gefährdet das Geschirr.
In diesem Jahr, oder im kommenden, ist sie zum erstenmal von Johann Christoph Gok besucht worden. (Von ihm kenne ich kein Bild. Nirgendwo ist eines reproduziert in den Erinnerungsgalerien.) Nach Schilderungen muß ich ihn mir ausdenken, nach dem Schatten, der von den Sätzen anderer geworfen wird, und auch diese Sätze sind karg, als hätte es ihn nur als unaufhörlich Tätigen gegeben, den Weinhändler, Bauern und Bürgermeister von Nürtingen, den Eigner des zweiten Vaterhauses, nicht auch als Gefährten, Erzieher, als den geliebten »zweiten Vater«. Er hatte den Grasgarten am Neckar gekauft, von dem aus der Junge zum erstenmal auf seine
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