Hafen der Träume: Roman (German Edition)
Grashalmen und riffelte die Wasserfläche.
Der Mann blieb sitzen, offenbar vollkommen zufrieden mit der Stille und dem Augenblick. Der Junge ließ die Schultern sinken, blass und mit einem harten Ausdruck in den Augen.
»Dieses Spiel können wir endlos weitertreiben. Es gibt viele Arten, Phil«, sagte Ray schließlich. »Da wäre die knallharte Tour. Wir legen dich an die kurze Leine, haben immer ein Auge auf dich, und wenn du versuchst, uns zu hintergehen, kriegst du Druck. Was dann meistens der Fall wäre.«
Bedächtig hob Ray seine Angelrute und heftete mit gespielter Gleichgültigkeit ein Marshmallow als Köder an den Haken. »Oder wir erklären das Experiment für gescheitert, und du gehst zurück in den Jugendknast.«
Phillips Magen drehte sich um. Er musste schlucken, um das Gefühl niederzukämpfen, das er nur widerstrebend als Angst wahrnahm. »Ich brauche Sie nicht. Ich brauche niemanden.«
»O doch.« Ray sprach leise und ließ die Leine ins Wasser fallen. Auf der Oberfläche breiteten sich endlose Kreise aus. »Wenn du in den Knast zurückgehst, wirst du dort bleiben. Noch ein paar Jahre in die gleiche Richtung, und dann heißt es nicht mehr Jugendfürsorge. Dann teilst du deine Zelle mit richtigen Verbrechern, Typen von der Sorte, die auf ein hübsches Gesicht wie deines nur gewartet haben. Eines Tages wird dich irgendein muskelstrotzender Zwei-Meter-Kerl unter der Dusche mit seinen breiten Pranken packen und vernaschen.«
Phillip gierte verzweifelt nach einer Zigarette. Das von Ray heraufbeschworene Bild trieb neue Schweißperlen auf seine Stirn. »Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
»Junge, sie werden dich wie eine Platte mit Appetithäppchen herumreichen. Das weißt du so gut wie ich. Du hast ein flinkes Mundwerk, und mit den Fäusten bist du auch nicht ungeschickt, aber manche Dinge geschehen einfach. Bis jetzt war dein Leben ziemlich miserabel. Daran trägst du keine Schuld. Aber für alles, was von nun an geschieht, bist du selbst verantwortlich.«
Wieder schwieg Ray. Die Angelrute zwischen die Knie geklemmt, holte er in aller Gemütsruhe eine Dose Cola aus dem Kühlfach und riss die Lasche auf. Dann setzte er die Dose an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck.
»Stella und ich glaubten etwas in dir zu erkennen«, fuhr er fort und sah Phillip noch immer an. »Das tun wir auch immer noch. Aber solange du es nicht selbst siehst, ist alles vergebens.«
»Was kümmert Sie das eigentlich?« Phillip warf gequält den Kopf in den Nacken.
»Schwer zu sagen, im Augenblick. Vielleicht bist du es gar nicht wert und landest wieder auf der Straße, als kleiner Gauner und Dieb.«
Seit drei Monaten hatte Phillip ein ordentliches Bett, bekam regelmäßig zu essen und konnte – eine geheime Leidenschaft von ihm – alle Bücher lesen, die ihn interessierten. Bei dem Gedanken, dies wieder zu verlieren, wurde seine Kehle erneut eng, doch er zuckte mit den Schultern. »Ich werde mich schon durchschlagen.«
»Du hast die Wahl, falls du nicht mehr willst. Aber hier kannst du ein Zuhause haben und eine Familie. Du bekommst die Chance, aus dir und deinem Leben etwas zu machen. Natürlich kannst du auch den Weg weitergehen, auf dem du jetzt bist.«
Ray streckte die Hand nach Phillip aus. Der Junge stählte sich für den erwarteten Schlag und ballte die Fäuste zur Abwehr. Doch Ray zog nur Phillips Hemd hoch und entblößte die blassen Narben auf seiner Brust. »Du kannst dorthin zurück«, sagte er ruhig.
Phillip sah Ray in die Augen und erkannte darin Mitgefühl und Hoffnung. Und er sah sich selbst blutend am Boden liegen, im Schmutz am Straßenrand, in einer Gegend, in der ein Menschenleben weniger wert war als die billigste Portion Rauschgift.
Von Übelkeit gepackt, erschöpft und von Angst gepeinigt ließ Phillip den Kopf auf die Hände sinken. »Was für einen Sinn hat das alles?«
»Der Sinn bist du, Junge.« Ray fuhr mit der Hand über Phillips Haar. »Du bist der Sinn.«
Der Wandel hatte sich nicht von einem Tag auf den anderen vollzogen, dachte Phillip. Aber eine Veränderung war eingetreten. Es gelang seinen Eltern, ihm den Glauben an sich selbst zurückzugeben. Die Schule zu besuchen und zu lernen wurde für ihn zu einer Frage der Ehre. So erschuf er sich neu als Phillip Quinn.
Wie es schien, hatte er gute Arbeit geleistet. Er hatte dem Straßenjungen eine tadellose äußere Hülle verpasst, eine glanzvolle Karriere, eine bestens ausgestattete Eigentumswohnung mit traumhaftem Blick
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