Hafen der Träume: Roman (German Edition)
Augenblick zurückführen, als Stella und Ray Quinn sein Krankenhauszimmer betreten hatten.
Dann war Ray plötzlich gestorben, und sein Tod hinterließ dunkle Schatten, die noch erhellt und geklärt werden mussten. Der Mann, dem Phillips ganze Liebe gegolten hatte als wäre er sein leiblicher Vater, starb an den Folgen eines Autounfalls. Auf gerader Strecke und am helllichten Tag war sein Wagen mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Telefonmast geprallt.
Wieder ein Krankenzimmer. Dieses Mal lag der Große Quinn zerschmettert im Bett, über Schläuche mit einer Maschine verbunden, die geräuschvoll für ihn atmete. Zusammen mit seinen Brüdern hatte Phillip ihm ein Versprechen gegeben. Sie würden sich um den letzten Herumtreiber kümmern, noch einen Verlorenen, den Ray Quinn in die Familie aufgenommen hatte, und dafür sorgen, dass der Junge bleiben konnte.
Doch um diesen Jungen gab es Geheimnisse, und seine Augen glichen den Augen von Ray.
In der Hafengegend von St. Christopher, einem kleinen, am östlichen Ufer der Chesapeake Bay gelegenen Ort in Maryland, tuschelte man hinter vorgehaltener Hand von Ehebruch, Selbstmord und Skandal. Phillip hatte den Eindruck, dass er und seine Brüder der Wahrheit keinen Schritt näher gekommen waren, seit die Gerüchte
vor sechs Monaten begonnen hatten. Wer war Seth DeLauter, und in welcher Beziehung stand er zu Raymond Quinn?
Noch ein Herumtreiber? Einfach ein halbwüchsiger Junge, der in dem üblen Sumpf von Vernachlässigung und Gewalt beinahe versunken wäre und den Ray aufgenommen hatte? Oder steckte mehr dahinter? War Seth ein Quinn nicht nur der Umstände wegen, sondern von Geburt?
Mit Sicherheit stand für Phillip nur fest, dass der zehnjährige Seth sein Bruder war. Genau wie Cam und Ethan seine Brüder waren – und die Brüder von Seth. Sie alle waren aus einem Albtraum erlöst worden und hatten die Chance zu einem neuen Leben erhalten.
Für Seth konnten Ray und Stella diesen Weg nun nicht mehr offen halten.
Ein Teil von Phillip, den es immer schon gegeben hatte, sogar in seinen schlimmsten Zeiten als jugendlicher Dieb und Herumtreiber, wehrte sich hartnäckig, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Seth der leibliche Sohn von Ray sein könnte, bei einem Ehebruch gezeugt und anschließend schamhaft verleugnet. Das käme einem Verrat an allem gleich, was ihn die Quinns durch ihr lebendiges Vorbild gelehrt hatten.
Phillip war voller Selbstverachtung, wenn dieser Gedanke auftauchte oder sein kühler prüfender Blick auf Seth ruhte und er sich fragte, ob die Existenz des Jungen der Grund für Rays Tod sein könnte.
Wann immer ihm dieser furchtbare Verdacht kam, verlagerte er seine Konzentration auf Gloria DeLauter. Seths Mutter war die Frau, die Professor Raymond Quinn der sexuellen Belästigung bezichtigt hatte. Sie behauptete, der Vorfall liege Jahre zurück und habe sich damals ereignet, als sie an der Universität studierte. Aber es gab keinerlei Beweis dafür, dass sie jemals dort eingeschrieben war.
Dieselbe Frau hatte ihren zehnjährigen Sohn an Ray verkauft, als wäre der Junge eine Ware, die sich zu Geld machen ließ. Phillip war sicher, dass es sich bei der Frau, die Ray in Baltimore aufgesucht hatte, ebenfalls um Gloria DeLauter handelte – und auf der Rückfahrt hatte er den Unfall, an dessen Folgen er starb.
Sie war auf und davon. Frauen wie Gloria DeLauter schafften es immer, im richtigen Moment zu verschwinden. Vor einigen Wochen hatte sie den Quinns einen ziemlich unverblümten Erpresserbrief geschrieben: »Wenn Sie den Jungen behalten wollen, brauche ich mehr Geld.« Phillip presste die Kiefern zusammen. Er erinnerte sich an die nackte Angst, die in Seths Augen stand, als der Junge von dem Brief seiner Mutter erfuhr.
Sie würde den Jungen nicht wieder in ihre Fänge bekommen, gelobte sich Phillip. Gloria DeLauter würde schnell begreifen, dass die Quinn-Brüder ein härteres Kaliber waren als der weichherzige alte Quinn.
Nicht nur die Quinn-Brüder, dachte Phillip, als er in die schmale Landstraße einbog, die ihn seinem heimatlichen Ziel näher brachte. Gloria DeLauter hatte es mit einer richtigen Familie zu tun. Phillips Gedanken wanderten weiter, während links und rechts der Straße Felder mit Sojabohnen, Erbsen und übermannshohem Mais vorbeiflogen. Cam und Ethan waren verheiratet, und so standen Seth zwei entschlossene Frauen zur Seite.
Verheiratet. Phillip schüttelte amüsiert und ungläubig den Kopf. Wer hätte das
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