Hafenweihnacht
wolle sie die Worte in ihrem Kopf verteilen. »Nein, wir waren nicht getrennt von unseren Eltern.«
»Sie wohnten oben, Ihre Eltern unten, so schaut es zumindest aus.«
»Ja, aber das ist doch nicht getrennt.«
»Haben Sie zusammen mit Ihren Eltern gegessen?«
Britta Drohst sah sie erstaunt an. »Ja, immer, am Tag des Herrn.«
Lydia Naber musste überlegen. »Am Sonntag?«
»Ja, am Sonntag.«
»Und … während der Woche?«
Britta Drohst schien irritiert. »Da haben wir natürlich oben gegessen.«
»Weshalb dieser Unterschied zwischen Sonntag und den anderen Tagen?«
»Weil diese Tage unterschiedlich sind«, lautete die so einfache Antwort, die aus einer anderen Lebenswirklichkeit stammte.
Lydia Naber schwieg und betrachtete den verkümmerten Menschen vor ihr auf dem Stuhl. Sie verfügte doch über alle Mittel, ein anderes Leben zu führen – sie war beruflich erfolgreich, finanziell unabhängig, ungebunden. Diese Enge, die von ihr ausging, war schwer zu verstehen, wenn man keine Vorstellung darüber hatte, woran es ihr mangelte: Vertrauen. Sie hatte kein Vertrauen, hatte es nie einem Menschen gegenüber empfinden dürfen. In ihrer Welt existierte kein Grundvertrauen in die Welt.
In das Schweigen, das entstanden war, fügte sich ihre Stimme ganz leise. Ihr Blick war ins Leere gewandt, fast konnte man meinen, sie nähme von Lydia Nabers Anwesenheit keine Notiz. »An Weihnachten war es immer schön. Da haben wir an jedem Abend gesungen, die Kerzen wurden jeden Tag entzündet, sobald es dunkel war …«, sie wendete ihr Gesicht Lydia Naber zu. Ihre Lippen formten ein Lächeln, doch es war voller Bitterkeit, wirkte wie eine weinerliche Fratze; ihre Augen hingen ausdruckslos in dunklen, knochigen Höhlen »Und in meinem Zimmer, da hing der große leuchtende Stern im Fenster und strahlte hinaus auf den See.«
»Das sind sicher schöne Erinnerungen«, log Lydia Naber.
Die Tür zum Büro wurde aufgestoßen und Schielin platzte herein. Er blieb stehen und fixierte Britta Drohst. Bei der Begrüßung spürte er ihre kraftlose Hand und tauschte Blicke mit Lydia, die nichts damit anzufangen wusste. Er reichte ihr ein Blatt Papier, auf dem gelbrote Markierungen einige Zeilen hervorhoben.
Eine lastende Müdigkeit hatte sich auf ihn gelegt, nachdem er Zuger zurück in den Vernehmungsraum gebracht hatte. Er wusste gar nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Auch Wenzel und Kimmel hatten hilflos dagestanden, bis zu dem Augenblick, als Robert Funk aus seinem Büro gestürmt war und seine Aufregung überhaupt nicht im Zaum halten konnte. Er fuchtelte mit einigen Blättern herum, hielt sie Schielin und Kimmel vor die Nase und konnte gar nicht stillstehen.
Sie hatten sich in Funks Büro zurückgezogen und besprochen, was das verrückte Ergebnis seiner Recherche bedeuten konnte, und wie sie damit umgehen sollten. Noch ohne Strategie, aber zielstrebig war er in sein Büro gegangen.
Lydia Naber erkannte an der bedachten Art, wie er sich setzte und an seiner Miene, seine Anspannung. Sie berichtete von ihrem bisherigen Gespräch mit Britta Drohst, die erzählt hatte, wie schön Weihnachten früher immer gewesen sei … und dieser Stern in ihrem Zimmer.
Ihr war es irgendwie peinlich so zu reden, als wäre diese erwachsene Frau ein Kind.
Schielin hörte gar nicht richtig zu. Er wiederholte »Ah, Stern, schön …«, und sah nachdenklich auf Britta Drohst.
Da war noch diese Frage, die ihn die letzten Tage verfolgt hatte. Etwas wollte er von dieser fahlen Gestalt wissen und es war ihm seit einigen Tagen immer wieder in den Sinn gekommen. Einmal war er nachts sogar aufgewacht und hatte davon geträumt, ganz so, als wäre es eine bedeutsame Sache, was eigentlich nicht sein konnte, da er immer wieder darauf vergaß. Er atmete in das Schweigen. Weder diese Britta Drohst noch Lydia Naber suchten den Blickkontakt zu ihm, was ihm ermöglichte für einige Sekunden die Stille zu genießen, und das Gefühl, nicht alleine zu sein. Was wohl Ronsard jetzt machte, und Marja und Lena. Saßen sie zu Hause in der warmen Stube? Dachten sie an ihn? Es beruhigte, der Gedanke an ein Zuhause – und plötzlich, da war sie wieder da, diese Frage. Er beugte sich vor und räusperte sich. »Frau Drohst. Am Schlüsselbund, den wir bei Ihrem Bruder gefunden hatten, da war ein neuer Schlüssel für das Haus in Nonnenhorn. Weswegen wurden eigentlich die Schlösser gewechselt, gab es einen Grund dafür, einen Einbruch vielleicht, der uns nicht bekannt geworden
Weitere Kostenlose Bücher