Halbmondnacht
Gerade du, mit deiner Ausbildung und deinem Beruf, wirst das sicher verstehen. Damals warst du noch ein kleines Kind. Ich habe den Aufstand rasch und unter Einsatz von Gewalt niedergeschlagen. Ich hatte geschworen, dich zu beschützen. Ich habe es mir selbst geschworen – und deiner Mutter.« Meine Mutter starb bei meiner und meines Bruders Geburt. Einen Wolf auszutragen war schon heikel, aber die Geburt von Zwillingen zu überleben war schlichtweg unmöglich. Man hatte mir immer erzählt, es sei ein Wunder gewesen, dass meine Mutter die Schwangerschaft überhaupt bis zum Geburtstermin durchgestanden habe. Annie McClain hatte bis zum letzten Atemzug für ihre Kinder gekämpft. »Nur damit das unmissverständlich klar ist: Ich habe nie geglaubt, am Kain-Mythos sei auch nur ein Wort wahr. Du bist meine Tochter, mein Fleisch und Blut. Aber das Rudel davon zu überzeugen, dass von dir keine Gefahr ausgeht, war schwieriger, als ich je für möglich gehalten hätte. Angst bricht jede Vernunft, wenn sie einen erst im Griff hat. Du bist zwar im Rudel aufgewachsen, doch du warst die ganze Zeit über das lebende Fanal dafür, dass etwas nicht stimmte.« Mein Vater drehte sich zu mir um. »Ich habe mit jeder Faser meines Herzens gehofft, du bliebest ein Mensch. Ich wusste, dass die Gemeinschaftder Übernatürlichen Kopf stehen würde, wenn du die Wandlung durchliefest. Du bist meine Tochter. Mein Bestreben war immer und vor allem, dich zu beschützen.«
Ich hob den Kopf und suchte den Blick meines Vaters. In meinen wie in seinen Augen glühte das gleiche Violett; ein Band, das wie kein anderes bewies, wie nahe wir einander waren. Vor mir stand der Vater, der mich aufgezogen und mich immer bedingungslos geliebt hatte. Dagegen konnte kein Gegenargument, kein Aber etwas ausrichten.
»Ich verstehe, was du mir damit sagen willst«, antwortete ich nachdenklich, und ein Teil meiner Anspannung fiel von mir ab. »Ich weiß, dass du alle Entscheidungen, die mich betrafen, aus Liebe getroffen hast, und diese Entscheidungen haben uns letztendlich hierhergeführt. Aber falls du tatsächlich davon überzeugt bist, die Prophezeiung könnte einen wahren Kern haben, solltest du mir den Grund dafür nennen. Ich muss verstehen, was hier los ist – oder will zumindest so viel verstehen wie möglich, ehe ich die Stadt verlasse. Und viel Zeit bleibt mir nicht mehr.« Dieses Mal konnte ich gerade noch verhindern, auf die nicht existente Uhr an meinem Handgelenk zu schauen.
Mein Vater seufzte und blickte zu Boden. Als er den Kopf hob, war es, als könnte ich für einen Lidschlag tatsächlich sein wahres Alter in seinem Gesicht ablesen. Es lauerte dort in den Falten und Linien um die müde blickenden Augen. Dann blinzelte er, und Müdigkeit und Alter waren wie weggewischt. »Als du dich das erste Mal gewandelt hast, wusste ich sofort, dass etwas anders war. Deine Wölfin hat deine Veränderung signalisiert und das Rudel damit in Alarmbereitschaft versetzt – so läuft es schon immer, und das ist auch richtig so. Aber gleichzeitig hat sie dich mit ihrem Ruf irgendwie … unterstützt . So etwas ist noch nie geschehen, nicht ein einziges Mal in meinen fünf Jahrhunderten als Alpha. Der erste Ruf, mit dem ein neuer Wolf über den Alpha Verbindung zum Rudel aufnimmt, ist normalerweise urwüchsig,ungezügelt. In diesem Stadium ist ein Wolf normalerweise noch so unbeholfen wie ein Welpe. Aber dein Signal war anders: Es zeigte Intelligenz. In unseren ältesten Überlieferungen heißt es über unsere Lykaner-Vorfahren, sie seien in der Lage gewesen, mit ihrem inneren Wolf in friedlichem Miteinander zu leben. Beide Seiten ihres Wesens hätten miteinander koexistieren können, was sie zu den perfekten Übernatürlichen gemacht hätte: ohnegleichen stark und machtvoll. Du hast mich beim Gedankenkontakt gleich mehrfach abgeblockt, und du hast die Fähigkeit, bei der Wandlung eine Gestalt zwischen Mensch und Wolf beizubehalten – kein anderer Wolf kann das. Damit ist klar, dass du etwas Besonderes bist. Die Zeilen in der Prophezeiung haben mich an die Märchen und Sagen erinnert, die am Feuer über Y Gwir Lycae erzählt wurden, und mir ging auf, dass diese Geschichten passen. Du, Jessica, bist mehr als ein einfacher Nachkomme unserer Vorfahren. Ich spüre das instinktiv, und ich erkenne es, wenn ich dich ansehe. Es gibt einen Grund dafür, dass unserem Rudel eine Weibliche geboren wurde. Das Schicksal irrt sich niemals.«
Gefühle überfluteten
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