Halbmondnacht
das stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sicherlich gab es für Väter, soweit es ihre Töchter betraf, einen ganzen Katalog an Aufgaben, die zu erfüllen sie sich zur Pflicht machten. Damit umgehen zu müssen, dass die eigene Tochter das meistgesuchte weibliche Wesen der ganzen Welt war, gehörte gewiss nicht dazu. Aber über Dinge zu lamentieren, die sich nicht ändern ließen, war nie meine Art gewesen. Mich mitphilosophischen Betrachtungen im Sinne von Was-wäre-wenn aufzuhalten auch nicht. Aus dieser Geschichte konnte ich nur heil herauskommen, wenn ich den Blick stur geradeaus richtete und endlich in die Hufe kam.
»Wenn du wieder zurück bist«, sagte mein Vater, »entwerfen wir gemeinsam einen Plan und sehen zu, dass wir alle Vorteile nutzen, die sich uns bieten. Sobald wir mehr über die Prophezeiung wissen, werden wir sehen, wo unsere Möglichkeiten liegen. Dann sind wir in der Lage, uns eine gute Verteidigungsstrategie auszudenken.«
»Ich nehme an, du hast für die Zwischenzeit auch einen Plan parat, richtig?«, wollte ich wissen. Mein Vater wäre nie unvorbereitet zu unserer Besprechung erschienen; nicht wenn er bereits gewusst hatte, dass seine Tochter vielleicht der Y Gwir Lycae sein könnte.
»Ja, habe ich.« Mit wenigen großen Schritten ging er vom Fenster wieder hinüber zum Tisch und setzte sich. Er war ein gut aussehender Mann, das Haar rabenschwarz und voll, und obwohl ihm seine Anspannung anzumerken war, wirkte er keinen Tag älter als fünfunddreißig.
Er beugte sich vor und schenkte mir ein dünnes Lächeln. »James und ich haben gestern Abend und in der Nacht noch einige logistische Probleme gelöst. Wir haben sozusagen die Grundlage für einen Plan geschaffen, der uns eine reelle Chance verschaffen sollte, auf die Verbreitung der Prophezeiung angemessen zu reagieren. Um dich vor all den bevorstehenden Gefahren zu schützen, brauchen wir jeden Wolf, den wir bekommen können. Wie sehr wir auch damit rechnen müssen, dass die anderen Gemeinden uns zukünftig Probleme bereiten, dein Schutz ist meine oberste Priorität. Die Wölfe, die sich in jüngster Zeit von beiden US -amerikanischen Rudeln lossagten, haben uns ins Chaos gestürzt. Wir können dich vor Angriffen aus egal welcher Ecke nicht effektiv bewahren, wenn wir uns nicht wieder zusammenraufen. Interne Machtkämpfe schwächen uns und dünnen unsere Reihen unnötig aus.« Er schwieg einen Augenblick und betrachtete nachdenklich seine Hände. Dann hob er den Blick und sah mich an. »Der Überbrückungsplan sieht vor, dass ich etwas noch nie da Gewesenes tue.«
Lange und eingehend musterte ich ihn. Der Anführer eines Rudels zu sein war keine leichte Aufgabe. Dennoch wusste ich, dass alles, was er unternehmen würde, jeder Schritt, den der Plan erforderte, genau berechnet sein und in die richtige Richtung führen würde. »Was immer es ist, ich bin sicher, du hast die bestmögliche Entscheidung getroffen.«
»Gleich nach unserer Besprechung«, erklärte mir daraufhin mein Vater, »reise ich in die Southern Territories und treffe mich mit Redman.«
»Persönlich?«, fragte ich überrascht. Einen anderen Alpha zu treffen, mit dem man sich befehdete, war in der Tat außergewöhnlich, egal, welche Maßstäbe man anlegte. Nach allen Geschichten, die ich in meinem Leben über Red Martin, den Alpha der U.S. Southern Territories, gehört hatte, war er ein brutaler Mistkerl, der mit eiserner Hand über seine Wölfe regierte. »Wie groß ist sein Rudel heute?«
»Es gehören neunundfünfzig Wölfe dazu«, erwiderte mein Vater. Verachtung gab seiner Stimme eine andere Klangfarbe. »Siebenunddreißig Wölfe weniger als noch vor zwanzig Jahren. Ich habe keine Ahnung, wo sie abgeblieben sind. Denn nur wenige sind zu meinem Rudel zurückgewechselt, und keiner ist als Einzelgänger gelistet. Ich vermute, sie sind irgendwo auf der Welt in neuen Rudeln aufgenommen worden. Entweder das, oder es handelt sich um die Wölfe, die sich zu der neuen Splittergruppe zusammengefunden haben. Dann allerdings hätte Red mit voller Absicht Stillschweigen darüber bewahrt. Was auch immer dahintersteckt: Ich habe vor, es ans Licht zu bringen.«
Vor zweihundert Jahren war Redman Martin verantwortlichdafür gewesen, dass das US -amerikanische Rudel auseinandergebrochen war. Er, der den Bruch vorangetrieben hatte, war Alpha des neuen Rudels in den Southern Territories geworden. Als Alpha des ursprünglichen Rudels hätte mein Vater Reds Leben leicht ein Ende setzen
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