Halo
lässt. Unsere Jungs wären so enttäuscht, wenn wir es absagen müssten.»
Während sie weiterplauderte, sah ich Gabriel nach oben blicken. Unauffällig wendete er seine Handflächen gen Himmel und schloss die Augen. Seine gravierten Silberringe funkelten im Sonnenlicht. Sofort, wie eine Antwort auf einen stillen Befehl, brachen Sonnenstrahlen durch die Wolken und tauchten die Basketballfelder in goldenes Licht.
«Nun seht euch das an», rief Mrs. Jordan, «ein Wetterumschwung! Ihr beide scheint uns Glück zu bringen.»
Im Hauptgebäude lag dunkler weinroter Teppich in den Gängen, und Eichentüren mit Glasscheiben führten zu den altertümlich wirkenden Klassenzimmern. An den hohen Decken hatte man einige der alten, geschwungenen Leuchter belassen. Sie bildeten einen starken Kontrast zu den mit Graffiti besprühten Metallspinden und dem Übelkeit erregenden Geruchsmix aus Deodorant, Putzmittel und fettigen Hamburgern, der aus der Cafeteria strömte. Mrs. Jordan gab uns eine Blitzführung, zeigte uns die wichtigsten Einrichtungen (den Innenhof, den Multimediabereich, die Fachräume für die Naturwissenschaften, die Aula, die Sporthalle sowie die Sportplätze und die Schultheaterräume). Sie stand offensichtlich unter Zeitdruck, denn nachdem sie mir mein Schließfach gezeigt hatte, deutete sie vage den Weg zur Schulkrankenschwester an, sagte mir, dass ich mich bei Fragen jederzeit an sie wenden könnte, packte Gabriel am Ellenbogen und zog ihn weiter. Er sah sich besorgt nach mir um.
«Kommst du zurecht?», formte er unhörbar mit den Lippen.
Ich lächelte als Antwort und hoffte, dass ich zuversichtlicher aussah, als ich mich fühlte. Ich wollte natürlich auf keinen Fall, dass Gabriel sich um mich sorgte, wenn er selber genug zu meistern hatte. In diesem Moment läutete eine durchdringende Klingel, die im gesamten Gebäude widerhallte und den Beginn der ersten Stunde anzeigte. Ich fand mich auf einmal ganz allein in einem Gang voller Fremder wieder. Sie drängelten sich auf dem Weg zu ihrer nächsten Stunde an mir vorbei, ohne auf mich zu achten. Für einen Moment kam ich mir vor, als wäre ich unsichtbar und hätte hier nichts verloren. Ich studierte meinen Stundenplan und stellte fest, dass das Durcheinander aus Zahlen und Buchstaben genauso gut in einer anderen Sprache hätte geschrieben sein können, so wenig Sinn machte es für mich. V . CHE . S 11 – wie um alles in der Welt sollte ich herausfinden, was das bedeutete? Ich spielte kurz mit dem Gedanken, in der Menge abzutauchen und mich zurück auf den Weg in die Byron Street zu machen.
«Entschuldige.» Es gelang mir, die Aufmerksamkeit eines Mädchens mit einem Wust goldroter Locken zu erwecken. Sie hielt an und betrachtete mich interessiert. «Ich bin neu», erklärte ich ihr hilflos und hielt ihr meinen Stundenplan hin. «Kannst du mir sagen, was das zu bedeuten hat?»
«Es bedeutet, dass du bei Mr. Velt in Raum S 11 Chemie hast», sagte sie. «Du musst einfach nur den Gang runter. Wir können zusammen gehen, wenn du willst – wir sind im gleichen Kurs.»
«Danke», sagte ich sehr erleichtert.
«Hast du nach Chemie Luft? Wenn ja, kann ich dich herumführen.»
«Luft?», fragte ich mit wachsender Verwirrtheit.
«Luft – eine Freistunde!» Das Mädchen sah mich amüsiert an. «Wie habt ihr die denn an deiner alten Schule genannt?» Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als ihr ein schlimmer Gedanke kam. «Oder hattet ihr etwa keine?»
«Nein», antwortete ich und lachte nervös. «Hatten wir nicht.»
«Das muss ja fürchterlich gewesen sein. Ich heiße übrigens Molly.»
Das Mädchen war bildhübsch; es hatte eine glänzende Haut, rundliche Formen und strahlende Augen. Mit ihrer Rosigkeit erinnerte sie mich an ein Mädchen in einem Gemälde, das ich einmal gesehen hatte, eine Schäferin in einer ländlichen Szene.
«Bethany», sagte ich lächelnd. «Nett, dich kennenzulernen.»
Molly wartete geduldig an meinem Spind, während ich meine Tasche nach dem richtigen Schulbuch, einem Notizblock und einer Handvoll Stifte durchwühlte. Ein Teil von mir wollte Gabriel zurückholen und ihn bitten, mich nach Hause zu bringen. Ich konnte beinahe spüren, wie mich seine starken Arme umfassten, mich vor allem beschützten und mich nach Haus Byron zurückführten. Mit Gabriel fühlte ich mich sicher, egal unter welchen Umständen. Aber ich wusste nicht, wie ich ihn in dieser riesigen Schule finden sollte, er konnte hinter jeder der unzähligen
Weitere Kostenlose Bücher