Die Sehnsucht des Piraten: Er ist der Schrecken der Meere - doch gegen sie ist er machtlos (German Edition)
1. Kapitel
Juni 1813
H onoria Ardmore sah über die dunkle Straße und direkt in das Gesicht des Piraten Christopher Raine.
Nebelschwaden waberten zwischen ihr und dieser Erscheinung, verbargen den blassen Fleck seines blonden Haares, seinen großen grobknochigen Körper und sein gebräuntes, attraktives Gesicht.
Drei Ladys in Operngarderobe und mit hoch aufgetürmten, gefährlich schwankenden Frisuren wären beinahe in sie hineingelaufen. »Also wirklich«, meinte eine hochnäsig zu ihren Begleiterinnen.
Honoria verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, um die Damen herumzusehen, aber die Erscheinung war bereits verschwunden.
Natürlich war er auch nie da gewesen, denn Christopher Raine war tot. Er war vor vier Jahren in Charleston gehängt worden, nachdem ihr Bruder James ihn gefangen hatte. Man hatte ihm den Prozess gemacht und ihn dafür zum Tode verurteilt, dass er ein Pirat mit Leib und Seele war.
Anschließend berichteten immer wieder Seeleute, dass sie seinen Geist auf einem verwunschenen Schiff mit einer Besatzung aus Dämonen gesehen hätten, auf dem der berüchtigte Captain Raine die Welt umsegelte, auf der Suche nach Vergeltung. Keiner sprach davon, dass er nach einer erbärmlichen Inszenierung von Verlorene Liebesmüh im Covent Garden Theater mitten in der Londoner Theatersaison aufgetaucht wäre.
Die Straße füllte sich mit Menschen, die aus dem Gebäude quollen. Sie strömten an Honoria vorbei, ohne sich darum zu kümmern, dass sie ihr den Blick auf die schattige Bow Street versperrten. Gerade als die Menge sich teilte und Honoria wieder den Ort sehen konnte, an dem sie ihn erspäht hatte, rollte die große schwarze Droschke vor, die ihre Schwägerin angemietet hatte, und kam vor ihr zum Stehen.
Der Mietkutscher sprang vom Bock und öffnete ihr den Schlag, sichtlich erfreut über seine Tüchtigkeit. Er zog jedoch ein langes Gesicht, als Honoria einfach an ihm vorbei in die Kutsche stieg, zu abgelenkt, um ihm ein Trinkgeld zu geben.
Sie ließ sich mit weichen Knien auf die unebene Sitzbank fallen und spähte unruhig durch die staubigen Fenster. Natürlich war nichts zu sehen.
Wie auch zuvor nicht. Christopher Raine war seit vier Jahren tot. Sie war fertig mit ihm. Es ärgerte sie, dass ihre Phantasie ihn heute Nacht aus dem Nebel heraufbeschworen hatte.
Ihre Schwägerin Diana stieg deutlich anmutiger ein, setzte sich neben sie und bedeutete dem Lakai mit einem Nicken, den Schlag zu schließen. Die Kutsche rollte mit einem Ruck an und hätte fast eine andere gerammt. Der Nebel wurde dichter, verschluckte die Menschenmenge, die Straße und alle Geister von legendären Piraten.
»Geht es dir gut, Liebes?«, fragte Diana. »Ich weiß, dass es heute ein scheußlicher Tag war.«
Honoria riss ihren Blick vom Fenster los. »Ja, mir geht es blendend, danke der Nachfrage.« Sie bemühte sich, in ihrem süßen, sanften Charleston-Singsang zu antworten und sich nichts anmerken zu lassen, als sie Dianas prüfenden Blick bemerkte.
Diana hatte recht, der Tag war wirklich schrecklich gewesen. Erst hatte die Zofe Honorias beste Handschuhe ins Kaminfeuer fallen lassen, wo sie fröhlich verbrannten und einen angenehmen Geruch nach gerösteter Seide verbreiteten. Als Honoria und Diana zu einem Handschuhmacher in die Oxford Street gegangen waren, um sie zu ersetzen, waren sie dort auf drei Ladys gestoßen, die sich über Honorias Akzent lustig gemacht hatten.
Diana hatte sie mit kaltem Ärger behandelt, aber Honoria hatte alles einfach an sich abprallen lassen. Sie würde nicht einmal im Traum jemanden einer Reaktion würdigen, der so schlechte Manieren besaß, dass er einen Fremden wegen seines Akzents verspottete.
Dann hatte Dianas taube Tochter Isabeau alle Bänder von Honorias Slippern geschnitten, weil sie die perfekte Länge für das Tau hatten, das sie gerade flocht. Sie wollte sich über die Galerie schwingen, wie es ihr Stiefvater auf seinem Schiff tat. Natürlich trat das vorhersehbare Unglück ein. Isabeaus blaue Flecken waren zärtlich geküsst worden, bevor man sie zur Strafe ins Bett steckte und Honorias Schuhe hastig repariert wurden.
Die Droschke war zu spät gekommen, es goss in Strömen, das Theaterstück war schrecklich gewesen, und die Zuschauer waren unruhig und rüde.
Das alles jedoch verblasste neben dem Schock, den Honoria empfand, als sie Christopher Raine im Nebel sah.
Jetzt beruhige dich endlich, Honoria! , rief sie sich stumm zur Ordnung. Du kannst ihn unmöglich gesehen
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