Halo
Landkarten von Europa hingen an den Wänden, welche mit abblätternden Tapeten beklebt waren. Porträts in schweren Goldrahmen hingen über dem marmornen Kamin, und ihre Gesichter betrachteten mich von oben herab, als trügen sie ein geheimes Wissen, von dem ich nichts wusste. Es gab ein Porträt eines Gentlemans mit gefältetem Kragen, offenbar aus der Renaissancezeit, und ein weiteres einer Frau, die von fünf nymphenartigen Töchtern umringt war, sämtlich mit präraffaelitischen Frisuren und flatternden Kleidern.
Über allem lag eine Staubschicht, auch über den Bildern. Ich fragte mich, wie lange es wohl her war, dass jemand in diesem Haus gelebt hatte. Hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Ein riesiges Spinnennetz hing anmutig unter der Decke wie ein Bezug aus Spitze. Als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass die Zeit überall ihre Spuren hinterlassen hatte. Die Esszimmerstühle sahen mottenzerfressen aus, die Bilderrahmen hingen schief, die Ledersofas waren durchgesessen, und an der Decke hatten sich feuchte Flecken gebildet, wo das Wasser offenbar durchgekommen war. Alles stand immer noch an seinem Platz, als wären die Eigentümer des Hauses überstürzt abgereist. Vielleicht hatten sie geglaubt, schnell zurückzukehren, doch hatten es nie getan. Die Fensterläden waren zugeklappt, sodass nur ein paar Streifen Licht in das Zimmer und über den Teppich fielen.
Mein gesamter Körper schmerzte, und mein Kopf fühlte sich schwer und wie benebelt an. Ich hörte in der Ferne Stimmen, doch niemand kam. Stundenlang saß ich so da und begann zu verstehen, was Gabriel mit menschlichen Bedürfnissen gemeint hatte. Ich fühlte mich schwach vor Hunger, meine Kehle war ausgetrocknet, und ich musste dringend auf die Toilette. Ich fiel in einen halbwachen Zustand, bis ich schließlich jemanden ins Zimmer kommen hörte.
Als mein Blick wieder klar wurde und ich mich aufsetzte, sah ich Jake Thorn am Kopf des Esstisches sitzen. Er trug ein Smokingjackett und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Auf seinem Gesicht lag das bekannte Grinsen.
«Es tut mir leid, dass es so enden musste, Bethany», sagte er. Er glitt herüber, um mir den Lumpen aus dem Mund zu nehmen. Seine Stimme klang wie Honig. «Ich habe versucht, dir eine Chance durch ein gemeinsames Leben zu geben.»
«Ein Leben mit dir wäre schlimmer als der Tod», sagte ich heiser.
Jakes Gesicht verhärtete sich. Seine Katzenaugen blitzten.
«Dein Stoizismus ist bewundernswert», sagte er. «Tatsächlich gehört er zu den Dingen, die ich an dir am liebsten mag. Doch in diesem Fall glaube ich, dass du deine Entscheidung bereuen wirst.»
«Du kannst mir nichts tun», sagte ich. «Ich werde nur zu dem Leben zurückkehren, das ich schon kenne.»
«Das stimmt.» Er lächelte. «Wie traurig, dass deine bessere Hälfte hierbleiben muss. Ich frage mich, was wohl aus ihm wird, wenn du nicht mehr hier bist.»
«Wag es nicht, ihm etwas anzutun!»
«Habe ich da einen Nerv getroffen?», höhnte Jake. «Ich frage mich, wie Xavier reagieren wird, wenn er herausfindet, dass sein Schatz auf einmal verschwunden ist. Ich hoffe, er wird nichts Unüberlegtes tun – Männer reagieren manchmal sehr seltsam auf Trauer.»
«Halt ihn da raus.» Ich zerrte an meinen Fesseln. «Das können wir unter uns ausmachen.»
«Ich glaube nicht, dass du in der Position bist zu handeln, oder?»
«Warum tust du das, Jake? Was glaubst du, kannst du damit gewinnen?»
«Das hängt von deiner Definition von ‹gewinnen› ab. Ich bin bloß ein Diener Luzifers. Weißt du, welches Luzifers größte Sünde war?»
«Stolz», antwortete ich.
«Genau, und darum hättest du meinen nicht verletzen dürfen. Das hat mir nicht gefallen.»
«Ich wollte dich nicht verletzen, Jake …»
Er unterbrach mich. «Das war dein Fehler, und nun ist es an mir, mich dafür zu rächen. Es wird sicherlich ein köstlicher Anblick, wenn der perfekte Schulkapitän sich das Leben nimmt. Ach je, was werden nur die Leute sagen.»
«Xavier würde das niemals tun!», zischte ich, obwohl mein Herz für einen Moment ausgesetzt hatte.
«Nein, das würde er nicht», stimmte Jake zu. «Nicht ohne ein bisschen Unterstützung von meiner Seite. Ich kann in seinen Kopf eindringen und ihm ein paar nützliche Vorschläge machen. Sollte nicht zu schwierig sein. Er hat ja bereits einmal die Liebe seines Lebens verloren, stimmt’s? Das macht ihn verwundbar. Was soll ich ihm raten … sich von den Felsen an der Shipwreck
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