Kuschelmuschel
Der Besucher
Unlängst wurde mir von der Bahnspedition eine große Kiste vor die Haustür gestellt. Es war eine ungewöhnlich feste, wohlgefügte Kiste aus einem dunkelroten Hartholz, das an Mahagoni erinnerte. Ich hievte sie unter großer Mühe auf einen Tisch im Garten und untersuchte sie eingehend. Die Schablonenaufschrift auf der einen Seite ließ erkennen, dass sie von Haifa aus mit der MS Waverley Star auf den Weg gebracht worden war, doch fand ich nirgendwo den Namen oder die Adresse des Absenders. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wer in Haifa oder der Umgebung von Haifa auf den Gedanken gekommen sein mochte, mir ein großartiges Geschenk zu machen. Mir fiel niemand ein. Nachdenklich ging ich zum Geräteschuppen hinüber und holte mir einen Hammer und einen Schraubenzieher. Dann machte ich mich vorsichtig daran, den Deckel der Kiste abzuheben.
Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich entdeckte, das die Kiste mit Büchern gefüllt war - mit eigenartig aussehenden Büchern. Band für Band nahm ich sie alle aus der Kiste heraus (ohne zunächst auch nur in eines einen Blick zu werfen) und legte sie in drei ziemlich hohen Stapeln auf den Gartentisch. So lagen dort schließlich 28 stattliche Bände, und sehr hübsch anzuschauen waren sie auch. Sie waren - alle einheitlich - aufs prächtigste in sattgrünes Saffianleder gebunden und trugen auf dem Rücken in Goldprägung die Initialen O. H. C. und dazu eine römische Zahl (I bis XXVIII).
Ich nahm den erstbesten der Bände zur Hand - es war Band XVI - und schlug ihn auf. Die unlinierten weißen Seiten waren mit einer zierlich gestochenen Handschrift in schwarzer Tinte bedeckt. Auf der Titelseite stand die Jahreszahl «1934». Nichts weiter. Ich griff nach einem anderen Band. Er trug die Nummer XXI und enthielt weitere Manuskriptseiten in derselben Handschrift - nur dass hier auf der Titelseite die Jahreszahl «1939» stand. Ich legte den Band wieder auf den Tisch und zog Band l hervor, da ich hoffte, in ihm eine Art Vorwort oder vielleicht den Namen des Verfassers zu finden. Statt dessen entdeckte ich vorn im Band einen Briefumschlag. Er war an mich adressiert. Ich entnahm ihm den Brief, den er enthielt, und warf rasch einen Blick auf die Unterschrift: Oswald Hendryks Cornelius. Siehe da - Onkel Oswald!
Seit über dreißig Jahren hatte niemand von meiner Familie mehr etwas von Onkel Oswald gehört. Der Brief trug das Datum des 10. März 1964, und bis dato hatten wir nur vermuten können, dass Onkel Oswald noch lebte. Wir wussten so gut wie nichts von ihm, außer dass er in Frankreich lebte, dass er viel reiste und dass er ein wohlhabender Junggeselle mit einigermaßen anstößigen, aber extravaganten Neigungen war, der mit seinen Verwandten nicht das geringste zu tun haben wollte. Alles übrige waren Gerüchte und Hörensagen, aber die Gerüchte waren so schillernd und das Hörensagen so exotisch, dass Onkel Oswald für uns alle seit langem ein strahlender Held war, eine Legende.
«Mein lieber Neffe», so begann der Brief, «ich glaube, Du und Deine drei Schwestern, Ihr seid meine nächsten noch lebenden Blutsverwandten. Deshalb seid Ihr meine rechtmäßigen Erben, und da ich kein Testament gemacht habe, wird alles, was ich bei meinem Tode hinterlasse, Euch gehören. Leider habe ich nichts zu hinterlassen. Ich habe einst ein recht ansehnliches Vermögen besessen, und dass ich kürzlich auf meine Art über alles verfügt habe, geht Euch nichts an. Zum Trost jedoch schicke ich Euch hiermit meine persönlichen Tagebücher. Sie sollten, so meine ich, in der Familie bleiben. Sie geben Auskunft über die besten Jahre meines Lebens, und es wird Euch nicht schaden, sie zu lesen. Solltet Ihr sie aber herumzeigen oder gar an Fremde ausleihen, so tut Ihr das auf Eure eigene, sicherlich nicht geringe Gefahr. Und solltest Du gar auf den Gedanken kommen, sie zu veröffentlichen, dann würde das, so stelle ich mir vor, nicht nur Dein Ende, sondern auch das des fraglichen Verlegers bedeuten. Denn Du musst wissen, dass Hunderte der von mir in den Tagebüchern erwähnten Heldinnen allenfalls erst halbtot sind, und wärst Du so närrisch, ihren lilienweißen Ruf mit schamroten Druckbuchstaben zu beflecken, so würden sie im Handumdrehen dafür sorgen, dass Dein Kopf in einer Schüssel landet und wahrscheinlich obendrein noch im Ofen geröstet wird. So sei also lieber vorsichtig. Wir beide sind uns nur ein einziges Mal begegnet. Das war vor vielen Jahren, 1921, als Deine
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