Späte Familie
1
Ich bin tot, schreit er mit aufgeregter Stimme, sein magerer Körper zappelt vor mir, ich bin wirklich tot, tot für immer, sein Mund ist aufgerissen, entblöÃt seine weiÃen, locker gewordenen Milchzähne, die nur noch an Fäden hängen. Ich bin nur ein Traum, singt er, du träumst die ganze Zeit, am Schluss findest du heraus, dass du keinen Sohn hast, für einen Moment schweigt er und betrachtet mein Gesicht mit tanzenden Augen, mein Erschrecken vergröÃert sein Vergnügen, seine neue Boshaftigkeit, die an diesem Morgen geboren wurde, sechs Jahre nach ihm, und ihn schon einhüllt wie die Gewänder, die er früher so gern getragen hat.
Ein Kreis von Kuscheltieren umgibt ihn, mit glanzlosem Fell und ewiger Erwartung im Blick, und er hüpft zwischen ihnen herum wie eine Seifenblase, auf seiner Brust baumelt ein ausgeschnittenes Papierherz, darauf mit groÃen Druckbuchstaben sein Name, damit die neue Lehrerin weiÃ, wer er ist, damit sie nicht durcheinander kommt, damit die anderen Kinder ihn sich einprägen, und auch die Wände, die ihn umgeben werden und jetzt noch nackt sind, in wenigen Tagen werden sie mit Zeichnungen von Tieren und Pflanzen bedeckt sein, mit Szenen der Fantasie, voller Heldenmut, in Farben der Erde, des Blutes und der Kohle, wie in den Höhlen prähistorischer Menschen, bevor die Schrift erfunden wurde.
Ich presse meine Lippen zusammen, an ihnen klebt der Geschmack von trockenem, an den Rändern versengtem Gummi, die ganze Wohnung scheint den Geruch einesSchwelbrandes zu verströmen, als wäre in irgendeiner Ecke ein brennender Reifen versteckt und schickte trübe Schwaden in unsere Richtung. Mein Blick bleibt an den Bücherregalen hängen. Gestern noch waren sie übervoll, jetzt gähnen Löcher in ihnen, starren mich strafend an wie die leeren Augenhöhlen eines Skeletts, wie wenig lassen wir zurück, nur weiÃlicher Staub ist von den Büchern geblieben, die uns in aller Stille Jahr um Jahr angeschaut haben.
Er hat das Gefühl, er habe für alle Ewigkeit meine Aufmerksamkeit verloren, er springt vor mir herum, er versucht es wieder, steigert seine Mitteilung, du bist tot, verkündet er laut jubelnd, richtig tot, tot für immer, du träumst nur, dass du lebst, das Haus hier ist nicht wirklich, der Stuhl da ist nicht wirklich, und auch ich bin nicht wirklich, das träumst du alles nur, gleich wirst du sehen, dass alles ein Traum ist.
Seine kleinen, immer schmutzigen Hände mit den kurz geschnittenen Fingernägeln fuchteln herum, suchen den Weg zu mir, jetzt kniet er vor mir auf dem Teppich, es scheint, als wäre er besiegt, schon wird sein Kopf von meinen Knien angezogen, aber sofort richtet er sich auf, packt einen Teddybären und wirft ihn mit aller Kraft in meine Richtung, ich fange den weichen goldenen Teddy, drücke ihn fest an meine Brust, wiege ihn hin und her, um seine Eifersucht zu erregen, um mir und ihm auf diese Art den Trost seiner Unschuld zurückzugeben.
Gib ihn her, er gehört mir, verlangt er, den hat mir Papa aus Scotlag mitgebracht, aber ich verstecke den Teddy hinter meinem Rücken, Scotland, sage ich, und meine Stimme krächzt, als hätte ich seit Jahren nicht mehr gesprochen, sag Scotland, und er kommt näher, und ich habe das Gefühl, als wollte er umarmt werden wie früher als kleines Kind, ich reagiere sofort, strecke ihm die Arme entgegen, aber dann wirft er sich auf mich, reiÃt mir den gefangenen Teddy mittriumphierendem Gebrüll aus der Hand, jetzt hab ich dich reingelegt, schreit er, Schläue blitzt in seinen Augen auf, und schon umkreist er den Wohnzimmertisch, wie ein Tänzer mit einer antiken Bibel, Teddy Scotlag, trillert er, nur im Traum gehör ich dir.
Erstaunt beobachte ich ihn, als sähe ich ihn zum ersten Mal, seine unbeugsame, unzweifelhafte Existenz verwirrt mich an diesem Morgen mehr als sonst, ein richtiger Junge, so zeigt er sich, keine Fantasiegestalt, keine Figur aus einem Kinderbuch, keine Frucht der Liebe, in die man manchmal ihrer SüÃe wegen beiÃt, kein wunderbares Spielzeug, ein Junge, der die Schale zwischen sich und der Realität mit lautem Jubel durchbrochen hat, mit geballten Fäusten. Ich versuche mir all das Wissen, das ich in den letzten sechs Jahren über ihn zusammengetragen habe, zu vergegenwärtigen, sortiere das Durcheinander von Dingen, deren Bedeutung unheimlich wichtig ist, beachte aber
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