Hamburg Horror Noir - Halloween Special
genug – so wollen wir diese Nacht miteinander durchstehen.“
Das altmodische Buch, das ich zur Hand genommen hatte, blindlinks aus dem Regale, war Robert Holbergs „Verrückte Reise“; mehr im unsicheren Scherze hatte ich es Dennis' Lieblingsbuch genannt, in Wahrheit genügte die meist verworrene und vor literarischen Motiven überbordende Geschichte nicht den ästhetischen Vorstellungen meines Freundes. Es fand sich wohl nur dort, da es uns in der Kindheit manch belustigende Stunden beschert hatte und grad dadurch vielleicht das einzige Buch blieb, das seine Erregung zu einer Linderung verhelfen konnte. Die närrischen Abenteuer des Martinius ließen jedenfalls jede schattenhafte Tiefe der anderen Werke seiner Sammlung gänzlich missen. Und mir war, er lauschte meiner Erzählung recht lebhaft, nicht mehr so vergessenen Blickes.
Ich war an jener wohlbekannten Stelle angelangt, wo Martinius zur Felsenhöhle kam, um das gläserne Herz aufzusuchen. Hier lautet, wie man sich womöglich erinnern wird, der Text von „Verrückte Reise“ folgendermaßen:
„Und Martinius, ermutigt durch des Waldes Umgebung und erstarkt obendrein dank des Weines, den er getrunken, wartete nicht länger. Aus dem funkelnden Licht der Sonne trat er in den Schatten der Höhle und mit jedem Schritt fror sich Eis in seinen Körper, das ihn beinah zum Stehenbleiben zwang. So heiß wie Feuer brannte die Kälte auf und in ihm, dass er einen Schrei ausstieß, der tausendmal dort widerhallte.“
Am Ende des Satzes hielt ich inne und sah meinen Atem als kalten Nebel aus dem Mund treten. Ich sagte, im Warenhaus war es kalt gewesen, aber dieser Frost, der mich plötzlich umgab, konnte nicht natürlich sein. Meine erregte Phantasie ließ mich sogleich glauben, die Kälte jener Höhle kroch nun an und in mir, bis meine Haut schmerzte und die Brust sich zusammenpresste. Bevor ich einen Schrei ausstoßen konnte, der meinen Freund weiter verstört hätte, verjagte ein tiefes Grollen mein Unbehagen und über dem Haus ertönten die schweren, bedrohlichen Laute eines Sommergewitters. Ich wartete einen erneuten Donnerschlag, bis ich in meiner Erzählung fortfuhr:
„Doch der tapfere Martinius schritt weiter und alsbald verlor sich dies Phänomen. Wo vollkommene Dunkelheit herrschen sollte, leuchtete ein schwaches Licht, das seinen Ursprung am Ende des felsigen Ganges fand. Entschlossen und bereit erreichte der Abenteurer der Höhle Schlund, in dem das gläserne Herz in Helligkeit schlug, meterhoch zur Decke reichend, von Wand zu Wand; ein durchscheinendes Ungetüm, das sich arglistig als Unschuld tarnte.
Zerschlage das Herz und sammle einen Splitter,
dann bleibst du kein Irrender und wirst zum Ritter,
erinnerte Martinius die Worte der Dorfbewohner, holte mit seinem Schwerte weit aus, traf das Herz an seinem Glas, das unter Tosen und Laute des Chaos zersprang.“
Hier hielt ich wiederum jäh inne, in Anwandlung wilder Bestürzung – es bestand kein Zweifel: während ich die letzten Worte gelesen hatte, hörte ich tatsächlich das ferne doch heftige Zerbersten von Fenstern, Dutzende mochten es gewesen sein. Das Gewitter über uns tobte weiter und im gleich bleibenden Abstande jagte ein Donner den nächsten.
Ich blickte zu Dennis, an dessen Gesichtsausdruck sich nichts geändert hatte. Ich war keineswegs sicher, ob auch er das fragliche Geräusch und die unnatürliche Kälte erlebt hatte – wenn nicht, dann spielte mir mein Hirn gar böse Streiche. Unsicher auch, ob ich in der Erzählung fortfahren sollte – wie war es denn am besten, das Gemüt meines Freundes ruhig zu halten? – hob sich in Dennis' Bette eine Hand, als Zeichen ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Ja, es war ihm möglich, sein Gesicht zu mir zu wenden und mit einem Ausdruck, den ich nie wieder auf eines Menschen Antlitz erblicken sollte, flüsterte er:
„Fahre fort, mein Freund. Bald haben wir es überstanden. Ich danke dir für den Besuch.“ Dann senkte er die Hand hinab, schloss die Augen und drehte sein Gesicht von mir, dass der Hinterkopf flach auf dem Kissen verweilte. Das gleichmäßige doch schwache Heben und Senken seiner Brust ermutigte mich, seine Worte nicht weiter zu bedenken und die „Verrückte Reise“ weiter zu lesen.
„Martinius, der Held, griff nach einem Splitter vor seinen Füßen. Es war unerheblich, welchen er nahm, sie glichen sich in Form und Größe und Schärfe des Randes, wie sonst nur Zwillinge sich zu gleichen vermochten. Mit diesem einen also nahm
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