Handbuch für Detektive - Roman
drückte und das Ganze in eine Papierserviette wickelte. Unwin nahm den Kaffee entgegen und eilte davon, bevor der Junge das Wechselgeld herausrücken konnte.
Schlaftrunken tapsten morgendliche Pendler zum blechernen Gemurmel der Lautsprecheransagen und dem Zeitungsgeraschel durch den Bahnhof. Unwin schaute prüfend auf seine niemals rastende, niemals rostende Armbanduhr, und heißer Kaffee schwappte unter dem Deckel hervor und über seine Finger. Damit der Unbilden nicht genug. Die Aktentasche schlug ihm gegen die Knie, langsam rutschte sein Schirm nach unten, und die Sohlen seiner Schuhe quietschten auf dem Marmorboden. Doch nichts konnte ihn von seinem Vorhaben abhalten. Er war noch nie zu spät gekommen, um sie zu sehen. Es war exakt sechsundzwanzig Minuten nach sieben, als er unter dem eleganten schmiedeeisernen Bogen von Bahnsteig vierzehn eintraf. In genau diesem Moment stolperte die Frau im karierten Mantel, das Haar sorgfältig unter die graue Mütze gestopft, durch die Drehtür und in das schwere grüne Licht eines Bahnhofsmorgens.
Sie schüttelte das Wasser aus ihrem Schirm und blickte zum Deckengewölbe empor, wie zu einem Himmel, aus dem mehr Regen zu befürchten ist. Sie nieste, zweimal, in eine behandschuhte Hand, eine Neuerung ihrer Gepflogenheiten, die Unwin mit dem Eifer eines Archivars, dem neu entdeckte Dokumente auf den Tisch gelegt werden, quittierte. Unerschütterlich bahnte sie sich ihren Weg durch die Bahnhofshalle. Nach genau neununddreißig Schritten (es waren niemals weniger als achtunddreißig und nie mehr als vierzig) stand sie an ihrer gewohnten Stelle, nur wenige Meter vom Bahnsteig entfernt. Ihre Wangen waren gerötet, die Faust fest um den Schirmgriff geschlossen. Unwin zückte einen zerschlissenen Fahrplan aus seiner Manteltasche und gab vor, ihn zurate zu ziehen, während sie warteten, gemeinsam und doch jeder für sich allein.
Wie viele Morgen hatte sie wohl schon hier gestanden, bevor er sie zum erstenmal gesehen hatte? Und wessen Gesicht hoffte sie unter den aussteigenden Fahrgästen zu entdecken? Sie war schön, so, wie ein einsamer, unscheinbarer Mensch uns schön erscheint, wenn wir seiner gewahr werden. Hatte ihr jemand ein Versprechen gegeben und es dann gebrochen? Absichtlich oder aufgrund eines unerwarteten Missgeschicks? Als Schreiber der Agentur stand es Unwin nicht zu, den Dingen allzu tief auf den Grund zu gehen, geschweige denn etwas anzustellen, was auch nur im Entferntesten einer Ermittlung ähnelte. Doch als er die Frau in dem karierten Mantel erblickt hatte, war er stehen geblieben. Ihr Anblick warf Fragen auf, Fragen, die sich zu stellen er nicht mehr umhinkonnte. Es war ein inoffizieller Weg, und sie war sein inoffizieller Anlass; das war alles.
Eine unterirdische Brise wehte von den Gleisen herauf und zerzauste ihren Mantelsaum. Der Zug fuhr um sieben Uhr siebenundzwanzig, wie immer eine Minute zu spät, im Bahnhof ein. Eine kleine Pause, ein Zischen, dann öffneten sich die schimmernden Türen. Aus dem Zug ergoss sich ein Schwall von einhundert und mehr schwarzen Mänteln und floss den Bahnsteig hoch. Direkt vor ihr teilte sich der Strom. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute nach rechts und nach links.
Der letzte Regenmantel eilte vorüber. Keiner war bei ihr stehen geblieben.
Unwin schob den Fahrplan in die Tasche zurück, klemmte sich den Schirm unter den Arm und griff nach seiner Brieftasche und dem Kaffee. Die Frau war so einsam wie zuvor: Hätte es ihm Schuldgefühle bereiten sollen, dass ihn das mit Erleichterung erfüllte? Solange niemand bei ihr stehen blieb, würden ihre Besuche im Central Terminal weitergehen,ebenso wie die seinen. Während sie nun den Rückweg zur Drehtür antrat, folgte er ihr und passte dabei seine Geschwindigkeit an die ihre an, sodass er auf dem Weg zu seinem Fahrrad stets wenige Schritte hinter ihr blieb.
Er konnte die braunen Haarsträhnen sehen, die unter ihrer Mütze hervorlugten. Auch die Sommersprossen in ihrem Nacken hätte er zählen können, doch Zahlen bedeuteten gar nichts; all das war ein Rätsel. So wie am vorangegangenen Morgen und an den sieben Morgen davor wünschte sich Unwin mit der ganzen Kraft seiner schmächtigen Seele, die Zeit würde ebenso stehen bleiben wie jener Zug am Ende des Gleises.
An diesem Morgen ging sein Wunsch in Erfüllung. Die Frau im karierten Mantel ließ ihren Schirm fallen. Sie drehte sich um und schaute ihn an. Ihre Augen – die er noch nie aus solcher Nähe
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