Hannahs Briefe
Mission.
Während die Kellner im Stimmengewirr halb taub wurden, stand plötzlich die göttliche Vorsehung vor Sílvio T. Aus einer abgewetzten Tasche zog er die Menora, die Max ihm, ohne zu handeln, abgekauft hatte. Dreihundert Jahre Geschichte steckten darin. Das Gold glänzte schon nicht mehr. Wo hatte diese Menora wohl schon überall gestanden, bevor sie über den Ozean gekommen und in Max’ Hände gelangt war?
Am nächsten Morgen erstrahlte das gute Stück in der Werkstatt und erntete überall bewundernde Worte. Während der stolze Schuhmacher die Verzierungen begutachtete, hörte er sich die Kommentare der Kunden an.
»Spätgotisch.«
Oder:
»Meine Oma hatte genauso eine.«
Oder:
»Das ist eine Kopie.«
Oj wej, konnte das sein? Hatte er sich womöglich über den Tisch ziehen lassen und billiges Messing gekauft? Er lief zu diversen Antiquitätenhändlern und Spezialisten, deren Urteil einhellig ausfiel: Der Leuchter war authentisch, aus dem 17. Jahrhundert. Drei Wochen vergingen, der Herbst brachte frische Luft in die Stadt. Alles lief bestens, bis eines Tages ein Herr mit dicken Augenringen beim Schuhmacher auftauchte und kurz und knapp verkündete, die Menora gehöre ihm.
Max protestierte: »Ich habe sie selbst gekauft!«
Der Mann war nicht zum Plaudern gekommen – er wollte die Menora, sonst nichts.
»Aber ich habe sie gekauft, neulich erst!«, wiederholte Max.
»Von Sílvio T., diesem Schmock !« Der Mann spuckte auf den Tresen. »Der Kerl schuldet mir eine Menge Geld, genau so viel, wie die Menora wert ist. Dieses Geld ist heute fällig, und er ist vom Erdboden verschwunden. Ver-schwun-den!«
»Aber …«
»Gib mir die Menora.« Er beugte sich über den Tresen. »Los!«
Er griff nach dem Leuchter und rannte davon.
Max stockte der Atem. Er schloss die Werkstatt und lief aufgebracht durch die Straßen. War er unvorsichtig gewesen? War er betrogen worden? Und wenn ja,von wem: von Sílvio T. oder von dem Kerl mit den Augenringen? War es denn üblich, den Verkäufer zu fragen, wem er Geld schuldete? Der Gläubiger hatte seinen Anspruch ja nicht einmal belegt. Max verfluchte sich in allen möglichen Sprachen. Im berüchtigten Restaurant Schneider betrank er sich, bis sich alles drehte, aber im Grunde war er Sílvio T. nicht böse. Irgendwann torkelte er nach Hause. Nachdem er in eine Ecke gepinkelt und ein Straßenköter es ihm nachgemacht hatte, überquerte er die Rua Frei Caneca – und erschrak.
Elf Uhr abends. Niemand Geringeres als Sílvio T. und der Kerl mit den Augenringen saßen nebeneinander in der Straßenbahn. Sie sprachen nicht miteinander und berührten sich kaum, kein Zeichen von Vertrautheit war zwischen ihnen zu erkennen. Max rieb sich die ungläubigen Augen: Sie waren es wirklich. Unglaublich! Das ergab keinen Sinn. Nicht mal der Zufall war zu solch einem Husarenstück fähig. Die Bahn fuhr los und nahm das Rätsel mit sich.
Was ihn aber wirklich verblüffte, war gar nicht die Dreistigkeit der Beteiligten, dieser beiden Ganoven übelster Sorte. Schließlich war ihm kein menschlicher Abgrund fremd. Wirklich erstaunlich war der unerwartete tiefe Frieden, den er plötzlich verspürte. Kein Schuldgefühl, keine Beklemmung, nichts! Max schwebte förmlich über der Rua Frei Caneca.
Er hatte seine Sünden gebüßt.
* * *
Rio de Janeiro. 4. Mai 1937
Guita, Du irrst Dich. Ich bin nicht aufsässig, ich habe mich nicht gegen die Thora gestellt. Mich verbindet viel mit unserem Glauben, so wie Vater es mich gelehrt hat. Aber meine Art, ihn zu befolgen, besteht darin, seine Gebote der Realität anzupassen.
Weißt Du noch, als ich ausgestoßen werden sollte? Was habe ich für Kummer gelitten, aber eines habe ich dabei gelernt: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Eines Tages habe ich mich frei von den Dogmen gemacht, die mir in meiner Verzweiflung nicht geholfen haben und mich stattdessen daran hinderten, meinen eigenen Weg zu gehen.
Heute gehört mein Glaube mir, Guita. Ich versuche, ein guter Mensch zu sein, indem ich meinen eigenen Überzeugungen folge. Ich vertraue auf meine Urteilskraft. Wie lässt es sich erklären, dass so viele Menschen Gutes tun, ohne eine formale oder religiöse Ausbildung zu haben und ohne sich etwas davon zu versprechen, weder im Leben noch im Himmel? Wie lässt es sich erklären, dass man gut zu sein nicht lehren, aber doch lernen kann? Vielleicht ist die aufrichtige Liebe der Gott der Vernünftigen.
Küsse,
Hannah
* * *
Rio war ein einziges
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