Hannahs Briefe

Vereinigung und hier die Synagoge der Orthodoxen.«Begeistert verkündete er: »Und jetzt sind wir in der Rua Senador Eusébio.« Mit erhobenem Finger zog er mich hinter sich her. »In diese Höhle setze ich keinen Fuß.«
    »Warum nicht?«
    Er stemmte die Hände in die Hüften.
    »Sehe ich aus wie jemand, der Billard spielt? Ich repariere Schuhe, davon lebe ich. Ich habe keine Zeit für ein paar bunte Kugeln!« Bevor ich etwas sagen konnte, riss er die Augen auf. »Sehen Sie? Da ist sie!«
    »Wer, Hannah?«
    »Nein, die Praça Onze! Sehen Sie nicht den Pavillon, den Park, das Kino? Mein Gott, wie schön! Sie haben die Büsche gestutzt und den Brunnen gesäubert!«
    Dann lief er keuchend weiter, grüßte nichtexistente Bekannte und hielt plötzlich jäh inne. Er schloss die Augen. Die Mittagssonne brannte auf ihn nieder. Ich dachte, Max werde vor meinen Augen sterben, stattdessen holte er den Stein aus der Tasche, öffnete die Augen und hockte sich hin, um ihn auf den Boden zu legen. Er kam wieder hoch, holte tief Luft und sah mich feierlich an.
    »Hier ruht die Praça Onze.«
    Wieder lief mir ein Schauer über den Rücken. Wir standen mitten in der Einöde einer grauen Verkehrsader, ein Ort, an den sich normalerweise kein Mensch verirrt.
    Max seufzte.
    »Wissen Sie, warum wir Juden Steine auf die Gräber legen, wenn wir die Toten besuchen?«
    Er war vollkommen klar im Kopf.
    »Es gibt verschiedene Erklärungen, ich bevorzuge die einfachste. Unser Volk lebte in der Wüste, und die Toten wurden in Gruben beerdigt, die von Sandstürmen freigelegt werden konnten. Um also die Gräber zu schützen und zu kennzeichnen, legte man Steine darauf. Und wenn jemand an einem solchen Grab vorbeikam, beging er eine gute Tat, wenn er selbst einen Stein dazulegte.«
    Es war jetzt ganz still auf der Avenida. Weder Autos noch Menschen waren zu sehen. Max breitete die Arme aus.
    »Sehen Sie? Sehen Sie, was passiert ist? Die Zeiten sind andere, alles hat sich verändert, aber die Steine liegen immer noch auf den Gräbern.«
    Max machte eine Pause, er sprach ganz ruhig. Alte Menschen strahlen auf Beerdigungen immer so etwas wie Weisheit und Weitsicht aus. Sie gehen auf epische Weise mit etwas um, das die Jungen erst noch erlernen müssen – die Sehnsucht.
    »Sehen Sie? Heute haben die Friedhöfe Grabsteine und Adressen. In Europa lassen sich die Adligen in den Gärten ihrer Schlösser begraben.« Er runzelte die Stirn. »Ja. Heute braucht niemand mehr einen Gott, niemand braucht Steine, Sand und das alles. Wozu auch? Der Mensch schafft sich seine eigenen Stürme …«
    Ich senkte den Blick und hörte ihn sagen:
    »Und seine Wüsten.«

Informationen zum Buch
    Eine Liebe, in der sich Weltgeschichte spiegelt
    Rio de Janeiro am Vorabend des Zweiten Weltkriegs: Nach der gescheiterten Revolte von 1935 eröffnet das Vargas-Regime eine Hexenjagd auf Kommunisten. Der Schuhmacher Max Kutner, ein polnischer Jude, muss im Auftrag der Geheimpolizei auf Jiddisch verfasste Korrespondenz etlicher Exilgenossen übersetzen und nach verschlüsselten Botschaften durchsuchen. Dabei stößt er auf die Briefe einer gewissen Hannah an ihre Schwester Guita. Hals über Kopf verliebt er sich in die unbekannte Schreiberin und beginnt sie fieberhaft zu suchen – bis sie eines Tages vor ihm in seinem Schusterladen steht und er sie an ihrer Handschrift erkennt. Doch die wirkliche Hannah ist nicht die Traumfrau aus den Briefen: Sie arbeitet als Edelprostituierte – und gleichzeitig als Spionin.
Mit dem wunderbaren Mikrokosmos des jüdischen Viertels um die Praça Onze lässt Ronaldo Wrobel in Hannahs Briefe einen Moment in der Geschichte Rios lebendig werden, der zugleich Weltgeschichte ist: Der jüdische Einwandererstrom aus Europa in den 1920er und 1930er Jahren, der tiefe Spuren in der brasilianischen Gesellschaft hinterlassen hat. Der hintergründige Humor, die Nostalgie und die Fabulierlust des Erzählers machen das Buch zu einem echten Lesevergnügen.
    „Ein Meisterwerk, klug und bewegend. Ein wunderbares Lesevergnügen!“
Peregrina Cultural

Informationen zum Autor
    Ronaldo Wrobel , geboren 1968, lebt und arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Rechtsanwalt in seiner Geburtsstadt Rio de Janeiro. Er ist Autor mehrerer Kurzgeschichtenbände und Kolumnist des jüdischen Magazins Menorah.