Hannahs Briefe
spekulieren, ob und, wenn ja, wo, wie und wann Hannah existiert hatte, musste ich sie zum Leben erwecken.
* * *
Max wunderte sich nicht, als ich ihm riet, den Stein für eine andere Gelegenheit aufzubewahren.
»Gute Idee«, sagte er.
Das erweckte in mir den Eindruck, dass er Bescheid wusste, dass er alles geplant und auch meine Reaktion vorausgesehen hatte. Was seine Gründe waren, ist mir ein Rätsel.
Kurze Zeit später waren wir auf der Avenida Brasil.
»Wohin sollen wir fahren?«, fragte ich.
Max ließ das Fenster herunter.
»Mir egal.«
Ich fuhr ohne Eile. Wir sahen uns die Industriegebiete an, die Schuppen am Straßenrand. Es roch nach Staub, der typische Stadtgeruch, gemischt mit dem Schlamm aus einem Kanal. Die Straßen waren frei, vor uns glühte der Asphalt. Ich schlug vor, in einerChurrascaria in Flamengo etwas essen zu gehen, Max war einverstanden. Dann erzählte er mir, wie er 1940 mit der Briefzensur aufgehört hatte.
»Ich bat um meine Entlassung, ich hielt es nicht mehr aus.«
Das letzte Jahr war von der Hoffnung geprägt gewesen, doch noch etwas von ihr zu hören und vielleicht zu erfahren, was damals bei jenem Abendessen passiert war.
»Es war schrecklich, all diese Briefe zu sehen und zu wissen, dass Hannah nicht mehr da war … Falls sie es überhaupt je war.«
»Wie meinen Sie das?«
Max antwortete nicht, er strich mit der Hand über den Stein in seinem Schoß.
Wir fuhren am Canal do Mangue vorbei in Richtung Zentrum. In der Sonne verblassten die Farben, das Thermometer zeigte 36 Grad.
»Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, sie wiederzusehen.«
Ich bog links ab über die Brücke auf die Avenida Presidente Vargas. Da waren wir also, auf diesem asphaltierten Monstrum, das in den Büchern meiner Kindheit als »breiteste Avenida der Welt« bezeichnet wurde. Ich hätte noch »und hässlichste« hinzugefügt. Hinter der Hauptpost sah man zubetonierte Flächen, auf denen hier und da ein Baum oder eine kleine Mauer stand – ein Ort, den man bestenfalls als unmenschlich bezeichnen konnte. Die Planierraupen der Ära Vargas hatten ganze Arbeit geleistet, sie hattendie Stadt aufgerissen und überall Narben hinterlassen. Die Bettler schliefen, und das Sambódromo bereitete sich auf den Karneval vor. Weiter hinten ragte der Turm der Central do Brasil mit seiner riesigen Uhr empor.
»Halt! Bleiben Sie stehen!«
»Wo?«
»Hier, jetzt sofort!«
Ich fuhr an die Seite. Was um Himmels willen war geschehen? Max öffnete die Tür und lief über den Mittelstreifen. Ich verstand überhaupt nichts mehr! Ich schloss den Wagen ab und lief hinterher. Er gestikulierte im Gehen und hörte nicht auf mein Rufen. Wir sahen aus wie zwei durchgeknallte Soldaten auf einem sinnlosen Marsch, bis er schließlich kurz vor einer Kreuzung stehen blieb. Er sah sich aufmerksam um und lief dann weiter, als werde er von einer höheren Macht gelenkt. Er blieb erneut stehen und breitete die Arme aus, maß anscheinend irgendetwas ab und machte drei Schritte nach links, trat ein Stück zurück und wirbelte herum wie ein Balletttänzer.
»Hier!«
»Was hier?«
Vor Aufregung war er ganz rot im Gesicht.
»Hier war meine Werkstatt.«
Mir lief ein Schauer über den Rücken. Es war weit und breit niemand zu sehen. Wir befanden uns irgendwo im Nichts.
»Woher wissen Sie das?«
»Wegen der Berge.«
Hinter uns lag der Morro da Providência, vor uns der Morro de São Carlos, weiter hinten der Corcovado und der Sumaré.
»Herzlich willkommen in der Rua Visconde de Itaúna.« Max lächelte. Er nahm mich an der Hand und zog mich hinter sich her. »Kommen Sie mit! Ah, Senhor Pedro, guten Tag!«
Welcher Pedro?
»Dona Helena, wie geht es Ihnen?«
Welche Helena?
»Sehen Sie den da?« Er hielt die Hand vor den Mund. »Das ist der Sohn der Nachbarin … ein Kommunist, macht dauernd Ärger.«
Fast wurden wir von einem Auto überfahren, ein anderes musste scharf bremsen. Max wich kein Stück von der Straße.
» Oj wej, warum müssen die ausgerechnet hier lang gehen?«
»Wer?«
»Die Integralisten! Sie wollen uns provozieren.« Dann lief er weiter.
Max hatte ein für alle Mal den Verstand verloren.
»Vorsicht, die Straßenbahn! Gestern erst ist hier jemand tödlich verunglückt, weil er nicht aufgepasst hat. Guten Tag, Senhor Heitor! Nein, ich will nichts kaufen.« Und dann, an mich gewandt: » Klientelschiks …«
So ging es weiter, durch die Gassen und vorbei an den Häusern von damals. »Das da hinten ist die Zionistische
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