Hannahs Briefe
habe Zeit, antworteten sie und wechselten das Thema. Sie lebten ein ruhiges Leben in Kattowitz, Reisele brachte Leon das Essen in die Werkstatt, und er kam am späten Nachmittag nach Hause. Alles verlief zu ihrer Zufriedenheit. Samstags gingen sie Hand in Hand spazieren, ohne ihrer Umwelt mehr als ein paar flüchtige Blicke zu schenken. Und das Kind?, wurden sie regelmäßig bedrängt. Aber Leon und Reisele genossen die Ruhe, den Frieden und das eheliche Gleichgewicht, die ein Kind bedroht, noch bevor es auf der Welt ist.
Eines Tages wurde Reisele schwanger. Da sie schon über vierzig war, ermahnten die Ärzte sie zu absoluter Bettruhe und guter Ernährung. Leon kam von nun an früher aus der Werkstatt, um seiner Frau im Haushalt zu helfen, abgesehen davon brachte er sich Arbeit mit nach Hause (natürlich nur, solange es sie nicht störte). Entgegen allen Prophezeiungen verlebte Reisele die Monate der Schwangerschaft ohne großeUnannehmlichkeiten, bis der Junge im April 1899 geboren wurde und, ein Nimmersatt, in nur einer Woche, die ihnen gemeinsam beschieden war, der Mutter alle Kraft aussog. Es war eine Tragödie. Leon Goldman war am Boden zerstört und gab seinem Sohn nur deshalb nicht die Schuld, weil es ihm gar nicht in den Sinn kam.
In den Ferien fuhr Max mit der Kutsche von Kattowitz ins Dorf seiner Großeltern väterlicherseits. Er bekam zu essen, Spielzeug und Kleidung. Dort wurde er mit Liebe überschüttet. Shlomo las ihm Geschichten vor und erzählte ihm Witze, über die er vor allem deshalb lachte, weil jemand da war, der ihn zum Lachen brachte. Durch seine Großeltern lernte Max zu lieben. Für die brennenden Kerzen zum Lichterfest Chanukka und die Süßigkeiten zu Purim wäre er bereit gewesen, jeden zu lieben. Wenn nötig, sogar sich selbst.
Doch im Krieg starben die Großeltern, und das Dorf wurde zerstört. 1916 entging Max der Armee, indem er sich von gerösteten Kernen ernährte, bis er weniger als 50 Kilo wog und nicht mehr eingezogen werden konnte. Er war nur noch Haut und Knochen, seine Ohren standen ab, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Er war nicht gerade hübsch und wollte es auch gar nicht sein. Seine männlichen Instinkte lebte er mit den Freundinnen des Vaters aus, die ihm zum Freundschaftspreis beibrachten, was er sich nicht in seinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Während die eine sich Max als Schwiegersohnwünschte, informierte die andere ihn, wenn in den Bordellen Nachschub kam. Die Frauen hatten helle Haut und pralle Brüste und rochen gut. Max lebte ein geregeltes Leben und bezahlte für sein Vergnügen, bis Sofia auftauchte.
Sie war sechsunddreißig Jahre alt, hatte Sommersprossen, schwarze Haare und einen melancholischen Blick. Schlichte Kleider verhüllten ihre Hüften und Brüste, die Max in seiner Vorstellung berührte. Hin und wieder lieferte er ihr etwas nach Hause, dann sah er an ihrer Hand jedes Mal den massiven Ehering aufblitzen. Liebenswürdig, wie sie war, bot Sofia ihm Kekse an, der Junge aß sie ohne Eile und ohne hungrig zu sein. Eines Tages bat sie ihn, ihr beim Anziehen eines Schuhs zu helfen. Max’ Euphorie wurde nur noch von seiner Verlegenheit übertroffen. Sofia tat so, als sei nichts, und lächelte in sich hinein.
Dies war der Beginn einer intensiven, heimlichen Liebesaffäre, während Sofias Ehemann als Handelsreisender unterwegs war. Max liebte es, an einem Muttermal am Hals seiner Geliebten zu knabbern, und schlug ihr vor, mit ihm nach Amerika zu flüchten, Kinder zu bekommen und die Vergangenheit zu vergessen. Um ihn nicht zu enttäuschen, versprach sie, darüber nachzudenken. Eines Tages gestand sie, dass ihr Mann sie schlug, was dank eines Paktes zwischen ihren Familien, die beide wohlhabend waren, toleriert würde. Woran Max knabberte, war in Wirklichkeit kein Muttermal, sondern eine Narbe. Die Affäre endete, als der Mann von einer seiner Reisenzurückkehrte. Einige Wochen später zog das Ehepaar aus Kattowitz weg, ohne eine Spur zu hinterlassen. Max fiel es schwer, Sofia zu vergessen, und so wuchs er heran und kannte weder die Schwärmereien der Verliebten noch die Unbedarftheit der Gläubigen. Alle anderen Frauen waren Klatschweiber und in seinen Augen nichts wert. Später in Brasilien ging er regelmäßig in eine Pension in Glória und erfreute sich an den dunklen Brustwarzen und den hochgestreckten Hintern der Mulattinnen. Er hatte eine Abneigung gegen die Ehe, gegen Kinder und Enkel. Wozu eine derart fragwürdige,
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