Hannahs Briefe
Minenfeld. Fanatische Truppen bekämpften sich auf den Straßen, ohne immer recht zu wissen, wofür sie standen, jedenfalls hassten sie das, wofür die anderen standen. Randalierer waren durch die Rua do Catete gezogen, Schulen waren in Alarmbereitschaft, die Integralisten trugen Grün, brüllten ihren Gruß, »Anauê«, und wetterten gegen die Juden. Einige von ihnen verschwanden nachts in aller Stille, andere am helllichten Tag. Dauernd konnte man sehen, wie jemand in Handschellen abgeführt und in einen Polizeiwagen gesteckt wurde, der dann mit heulender Sirene davonbrauste. Wer, was, wann, wie?, raunte man sich zu. Nur die Furchtlosen fragten auch nach dem Warum.
Erstaunlicherweise wimmelte es in der Stadt von Theatern, Cafés, Kasinos, Orte, an denen bekanntermaßen Spione und andere dubiose Akteure verkehrten. Während auf den Cocktailpartys der Botschaften die Gläser klimperten, handelten die Gäste mit geheimen Informationen. Um Brasilien für sich zu gewinnen, startete die deutsche Diplomatie eine vehemente Kampagne, in der sie Herrn Hitler zum einzigen Führer erklärte, der in der Lage war, die kommunistische Gefahr aufzuhalten.
Aber was hatte der Schuhmacher mit alldem zu tun? Nichts, absolut nichts. Hitler, Stalin, Roosevelt? Max zuckte nur mit den Schultern. Ihn interessierte nicht, wie es mit der Welt weiterging. Für ihn zählte nur Hannah: Wo sollte er sie suchen, wie würde er sie erkennen? Sobald sie etwas von Gemüse erwähnte,würde er sämtliche Märkte durchkämmen, schrieb sie vom Strand, liefe er die Strände der Zona Sul ab. Immer wieder las er ihre Briefe und versuchte, sich vorzustellen, wie sie aussah, wie er sie berührte und küsste. Manchmal befühlte er das dünne, parfümierte, mit wunderschönen Tuschezeichnungen versehene Papier. Eines Tages bat er Onofre, ihm die Umschläge zu zeigen, doch auch der bekam die Briefe bereits auseinandergefaltet.
Die Arbeit in der Werkstatt ging Max auf einmal schlecht von der Hand. Er hielt Fristen nicht ein, verwechselte Aufträge und verletzte sich sogar vollkommen überflüssigerweise. An den Sonntagen wirkte er oft wie meschugge , wenn er allein gestikulierend um die Ecke bog und qualvollen Spekulationen nachhing.
Eines Tages lieferte ihm Hannah einen wertvollen Hinweis. Sie schrieb ihrer Schwester, dass, obwohl José »Probleme« habe und an Krücken ging, sie gemeinsam »jüdische Lokale« aufsuchten. Max schloss daraus dreierlei. Erstens, dass José Jude war, zweitens, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er sie träfe, und drittens, und das war das Aufregendste, dass Hannah ihn womöglich nur aus Mitleid und nicht aus Liebe geheiratet hatte.
Von nun an besuchte Max regelmäßig Vorträge und Theateraufführungen in der Gemeinde. Er ließ sich in Clubs und Schulen blicken und las die Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite. Von der Totenwache ging es zum Tanzen, aus den Kneipen in die Synagoge. Am Kabbalat Schabbat im Beth Israel betete er mit gespielter Hingabe und sah sich dabei unauffällig nach ihr um. Die Suche nach Hannah war nicht nur zu seinem Lebensinhalt geworden, sondern entsprang auch dem Wunsch, etwas zu sein, das er bisher nie gewesen war: glücklich.
Guita reagierte ungehalten auf die jüngsten Informationen über ihren Schwager und erkundigte sich in ihrem mit dem Radiergummi verschmierten Brief nach Josés »Virilität«. »Erkläre mir bitte, was für Probleme dein Mann hat!« Max erbebte bei dem Gedanken, dass seine Muse, die überall Güte säte, selbst keine Saat empfangen sollte. Guita riet Hannah, mit einem Rabbiner zu sprechen, woraufhin diese antwortete, kein Rabbiner könne ihr helfen, da sie eine Aguna sei. Max erschrak: Aguna ? Was war das?
Aguna, Aguna?, grübelte er auf dem Nachhauseweg. Er hatte noch nie davon gehört. War es eine Krankheit, ein Stigma, eine Sünde? Das Wort schmerzte in den Ohren, es konnte nichts Gutes bedeuten. Welches Unglück war Hannah widerfahren und hatte aus ihr eine Aguna gemacht? War sie es immer gewesen oder irgendwann geworden? Wann? Warum? Was es auch sei, Max würde sie deswegen nicht weniger lieben. Sollte die Jugend doch nach Perfektion streben, als erwachsener Mensch bevorzugte er Nachsicht und Toleranz. Im Übrigen war er weder alt noch angesehen genug, um über sie zu urteilen.
Halb sieben Uhr abends, ein paar Jungs verkauftendie Abendzeitung an den Straßenbahnhaltestellen, die ersten Bohemiens bevölkerten die Bars. Den Mysterien des Tages folgten die der
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