Hannahs Briefe
Nacht. Rio wechselte sein Kleid. Um diese Uhrzeit hatte die Israelitische Bibliothek geschlossen. Wen sollte er jetzt fragen, was zum Teufel eine Aguna war?
In der Werkstatt gab es viel zu tun. Sein Gehilfe ordnete die angenommenen Schuhe und fegte danach den Boden. Max ging den Block durch, in dem Kunden, Termine und bereits geleistete Zahlungen aufgeführt waren. Es waren zwei Taschen, ein Gürtel und nicht weniger als zwölf Paar Schuhe, von denen einige so gut wie und andere völlig hinüber waren. Zu allem Überfluss hatte eine Kundin es auch noch »besonders eilig«.
»Sie kommt morgen nach dem Mittagessen«, erklärte sein Gehilfe.
Beide Absätze waren kaputt – besser gesagt, zerstört. Er konnte sie unmöglich in so kurzer Zeit reparieren. Die Kundin möge ihm verzeihen, Eile und Qualität schlossen einander nun mal aus. Abgesehen davon hatte Max die Nase voll von hysterischen Frauen, die angeblich immer alles ganz dringend brauchten. Vor einer Hochzeit herrschte jedes Mal Bürgerkrieg vor seinem Tresen. Braune Schuhe wurden mit schwarzer Creme eingeschmiert, alte Damen wollten sich ihre Reliquien ausbessern lassen, Nesthäkchen kamen mit von den Geschwistern geerbten Modellen, die diese wiederum von den Eltern geerbt hatten. Was gab es für ein Geschrei wegen zerbrochener Schnallenoder zerfurchten Leders. Manchmal kam Max sich vor wie einer der eitlen Schneider aus der Rua do Ouvidor, die um die Damen herumscharwenzelten und sich ihren Klatsch anhörten. Dann dachte er an sein altes Polen zurück, wo man Schuhe trug, um die Füße zu schützen, und nicht, um sie zu schmücken.
Seite für Seite ging Max die Aufträge durch. Fast immer dieselben Kunden mit ihren fixen Ideen. Hatte er Dona Sara nicht gesagt, sie solle sich eine neue Tasche kaufen? Und Jonas K., der wieder ein Loch mehr im Gürtel wollte, weil er immer dicker wurde? Im Irrenhaus kämen sie vielleicht zur Vernunft! Als er die letzte Seite aufschlug, versetzte es ihm einen Stich.
»Oj, main Got!«
Er schloss die Augen.
»Oj, oj!«
Ihm stockte der Atem: Das konnte doch nicht sein! Er musste geträumt haben. Sein Gehilfe hielt ihn an der Schulter.
»Ist alles in Ordnung?«
Ein Schwindel überkam ihn.
»Oj, oj!«
Max ließ sich auf einen Stuhl fallen und bat um ein Glas Wasser, das Blut rauschte ihm durch die Adern. Er nahm einen Schluck und sabberte auf sein Hemd, zum Entsetzen seines Gehilfen.
»Ich rufe den Krankenwagen!«
Max rief Gott an und auch Shlomo. Das war kein Hirngespinst, er kannte diese Unterschrift. Natürlichkannte er sie, es war keine Verwechslung möglich. Wie oft hatten ihre Briefe mit diesem herrlichen Zug geendet? Ihr wunderschönes Handzeichen, mit Tusche gepinselt. Natürlich erkannte er die Signatur.
Hannah.
Kapitel 2
Max wohnte und arbeitete zusammen mit seinem Vater in Kattowitz. Wenn er eine Aufgabe erfolgreich erledigt hatte und von Leon einen anerkennenden Blick erntete, war Max jedes Mal ganz aus dem Häuschen. Dann liebte er ihn so sehr, dass er errötete. Von dieser Zuneigung zehrte er bis zum nächsten Mal. Insgesamt war es ein eher funktionelles Verhältnis: Leon sagte nur das Nötigste. Manchmal fragte er den Jungen, wie es in der Schule lief, oder er gratulierte ihm zum Geburtstag. Wenn »Freundinnen« zu Besuch kamen, bat er Max, im Wohnzimmer zu schlafen. Herausgeputzt tauchten sie mit Leckereien auf, die den Jungen bei Laune hielten, während im Zimmer nebenan zur Tat geschritten wurde. Meistens blieben sie danach noch auf eine Tasse Tee und ein Stück Brot. Einmal hörte er eine von ihnen von ihrem Sohn sprechen und stellte sich vor, wie es wäre, eine so schillernde Mutter zu haben. Im Grunde war es gar nicht so sehr das Schillernde, das ihn beeindruckte, sondern überhaupt der Gedanke, eine Mutter zu haben, irgendeine. Wie es wohl war, mit einer Frau zusammenzuleben, die ihn ihren Sohn nannte? Wie wäre es, eine Mutter zu haben, die das Abendessen zubereitete,die Wäsche wusch und die Möbel abstaubte? Stimmte es wirklich, dass Mütter ihren Kindern Medizin gaben, sie anzogen und mit ihnen schimpften? Als er acht war, bat Max den Vater, ihm von Reisele zu erzählen. Eine Träne ging seiner Antwort voraus.
Leon und Reisele Goldman hatten mit Anfang dreißig geheiratet. Angesichts dieser späten Hochzeit vermutete der Rabbi, zumindest einer der beiden sei verwitwet oder geschieden. Die Flitterwochen verbrachten sie bei Shlomo und Rebekka auf dem Land, wo es dauernd hieß: Und das Kind? Das
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