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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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die Tiere ihren Platz, wo sie während der Nacht schlafen. Ein Bach ist auch da, aus dem sie trinken können. Dahinter erstreckt sich ein Meer von Apfelbäumen.
    Entlang des Westwalls stehen drei Hochsitze mit einfachen Dächern zum Schutz gegen Regen, von denen aus man die Tiere durch eisenvergitterte Fenster beobachten kann.
    »Außer dir schaut sich kein Mensch die Tiere an«, sagt der Wächter. »Aber das wird sich auch bei dir legen, du bist ja kaum da. Hast du erst mal eine Zeit lang hier gelebt, wirst du das Interesse schon verlieren.Wie alle anderen. Die allererste Frühlingswoche ausgenommen.«
    Der Wächter erzählt mir, dass die Stadtbewohner in der ersten Frühlingswoche auf die Hochsitze steigen, um den Tieren beim Kämpfen zuzusehen. Nur in dieser einen Woche wandelt sich der sonst so friedliche Anblick drastisch, nur in dieser Zeit – wenn die Tiere gerade den Winterpelz verlieren, kurz bevor die Weibchen Junge werfen – stürmen die Böcke mit unvorstellbarer Brutalität aufeinander los. Die unermesslichen Mengen Blut, die zu Boden fließen, gebären dann eine neue Ordnung und neues Leben.

    Jetzt im Herbst kauert ein jedes still an seinem Platz, ihr langes goldenes Vlies leuchtet in der Abendsonne. Vollkommen regungslos wie in den Boden eingelassene Statuen warten die Tiere mit erhobenen Köpfen, bis die letzten Lichtstrahlen des Tages im Ästemeer des Apfelwäldchens versunken sind. Als die Sonne schließlich untergeht und sich blaue Dunkelheit über ihre Leiber legt, senken sie die Köpfe, betten ihr weißes Horn auf den Boden und schließen die Augen.
    So geht ein Tag in der Stadt zu Ende.

3  HARD-BOILED WONDERLAND
ÖLZEUG, SCHWÄRZLINGE, ZAHLENWASCHEN
    Das Zimmer, in das sie mich geführt hatte, war groß und leer. Die Wände und die Decke waren weiß, der Teppichboden kaffeebraun, jeweils geschmackvolle, edle Farben. Weiß, sagt man, aber es gibt edles Weiß und ordinäres Weiß, auch die Farben haben ihre Herkunft. Die Milchglasscheiben des Fensters ließen einen prüfenden Blick nach draußen nicht zu, aber das von dort kommende diffuse Licht war ohne Zweifel das der Sonne. Was hieß, dass ich mich nicht in einem unterirdischen Geschoss befand, der Aufzug musste sich aufwärts bewegt haben. Das beruhigte mich ein bisschen. Mein Gefühl hatte nicht getrogen. Da die Frau mir bedeutete, mich zu setzen, nahm ich auf dem Ledersofa in der Mitte des Zimmers Platz und schlug die Beine übereinander. Sobald ich saß, verließ die Frau durch eine andere Tür als jene, durch die wir eingetreten waren, den Raum.
    In dem Zimmer befand sich fast nichts, was man als Mobiliar hätte bezeichnen können. Auf dem Couchtisch standen ein Feuerzeug, ein Aschenbecher und ein Zigarettenkästchen, alles aus Keramik. Ich lupfte den Deckel, aber das Kästchen war leer. An den Wänden kein Bild, keine Fotos, kein Kalender. Es gab nichts Überflüssiges.
    Seitlich am Fenster stand ein großer Schreibtisch. Ich erhob mich vom Sofa, trat ans Fenster und warf dabei einen Blick auf den Schreibtisch. Er bestand aus einer massiven Platte mit großen Schubladen an beiden Seiten. Auf der Platte waren eine Tischlampe, drei Bic-Kugelschreiber und ein Tischkalender, daneben lag verstreut eine Hand voll Büroklammern. Ich warf einen prüfenden Blick auf den Kalender, das Datum stimmte. Das Datum von heute.
    In einer Ecke standen drei gewöhnliche Stahlspinde, wie man sie fast überall findet. Sie passten nicht recht zu dem Zimmer. Sie wirkten zu geschäftsmäßig, zu direkt. Ich hätte elegante Holzkommoden in das Zimmer gestellt, aber es war nicht mein Zimmer. Ich war dienstlich hier, und ob nun mausgraue Stahlspinde herumstanden oder Musikboxen in Pfirsichpastell, ging mich nichts an.
    Die Wand links barg einen Einbauschrank mit langen, schmalen Falttüren. So viel zum Mobiliar. Es gab keine Uhr, kein Telefon, keinen Bleistiftspitzer, keine Wasserkanne. Kein Bücherregal, keine Ablage. Die Funktion und der Zweck dieses Zimmers waren mir ein Rätsel. Ich setzte mich wieder aufs Sofa, schlug die Beine übereinander und gähnte.
    Nach etwa zehn Minuten kam die Frau zurück. Ohne mich auch nur anzusehen, öffnete sie eine der Spindtüren, holte etwas Schwarzes, Glänzendes heraus und trug es, an die Brust gepresst, zum Tisch. Es handelte sich um säuberlich zusammengelegtes Ölzeug und Stiefel. Ganz obenauf lag gar eine Schutzbrille der Art, wie Piloten sie im Ersten Weltkrieg getragen haben mögen. Ich hatte keinen Schimmer, was

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