Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Himmel zerbrochen und falle nun in Stücken auf uns herab.Weiße Massen stürzen in den See und werden von dem unheimlich tiefblauen Wasser lautlos verschlungen. Inmitten der geweißten Erde tut sich wie eine riesige Pupille nur das runde Loch des Sees auf.
Mein Schatten und ich stehen wie versteinert im Schnee und sehen lange wortlos diesem Schauspiel zu. Wie beim letzten Mal, als ich hier war, sind auch jetzt wieder unheimliche Wassergeräusche zu hören, doch diesmal sind sie viel dumpfer und klingen wie fernes Dröhnen der Erde. Ich sehe zum Himmel auf. Er hängt viel zu tief. Ich schaue nach Süden zur Mauer hinüber. Schwarz und konturenlos scheint sie hinter der Wand aus Schnee zu schweben. Sie hat mir nichts mehr zu sagen. Was sich mir bietet, ist nichts als der kalte Anblick einer Einöde, die zu ihrem Namen passt: DAS ENDE DER WELT .
Langsam häuft sich der Schnee auf meinen Schultern und dem Schirm meiner Mütze, immer mehr, ohne Ende. Unsere Fußspuren müssten mittlerweile längst zugeschneit und nicht mehr zu sehen sein. Ich schaue zum Schatten hinüber, der etwas abseits steht. Die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen, beobachtet er angestrengt den See und klopft sich dabei ab und zu den Schnee ab.
»Das ist unser Fluchtweg. Ich bin ganz sicher«, sagt der Schatten. »Die Stadt kann uns nun nicht mehr gefangen halten. Wir werden frei sein, frei wie die Vögel!« Dann wirft er den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und lässt sich den Schnee aufs Gesicht fallen wie heißersehnten Regen. »Wunderbares Wetter! Der Himmel ist blau, es weht ein laues Lüftchen«, sagt er und lacht.
Als habe man ihn von schweren Fesseln befreit, scheinen sich seine Lebensgeister langsam wieder zu regen. Er kommt – noch leicht schleppenden Schrittes zwar – aus eigener Kraft auf mich zu.
»Richtig fühlen kann ich es!«, sagt er. »Da draußen hinter dem See liegt die andere Welt. Was ist mit dir? Hast du etwa immer noch Angst davor, hier hineinzuspringen?«
Ich schüttele den Kopf.
Der Schatten hockt sich auf den Boden und zieht die Schnürsenkel seiner Stiefel auf. »Wenn wir hier noch lange so herumstehen, frieren wir noch fest! Komm, lass uns hineinspringen! Zieh die Schuhe aus, wir binden unsere Gürtel aneinander, damit wir uns nicht verlieren, bevor wir draußen ankommen. Das Kind soll schließlich nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden!«
Ich nehme die Mütze vom Kopf, die mir der Oberst geliehen hat, klopfe den Schnee ab und sehe sie mir genau an. Eine alte Feldkappe. Der Stoff ist an einigen Stellen eingerissen, die Farbe weiß verschossen. Offensichtlich hat der Oberst die Kappe jahrzehntelang getragen, gehütet und gepflegt. Ich klopfe sie noch einmal sauber ab und setze sie wieder auf.
»Ich möchte hierbleiben«, sage ich.
Der Schatten starrt mich vollkommen entgeistert an. Seine Augen haben ihren Fokus verloren.
»Ich habe mir das gut überlegt«, sage ich ihm. »Tut mir leid, aber es ist das, was ich für mich entschieden habe, und ich habe lange darüber nachgedacht. Ich weiß, was es bedeutet, alleine hierzubleiben. Und ich weiß auch ganz genau, dass es unter diesen Umständen das Vernünftigste wäre, mit dir zusammen in die alte Welt zurückzukehren. Ich weiß, dass dort die wirkliche, reale Welt auf mich wartet und dass meine Entscheidung, davor zu fliehen, falsch ist. Aber ich kann einfach nicht weg von hier.«
Der Schatten schüttelt immer wieder langsam den Kopf, die Hände in den Taschen vergraben.
»Aber warum nur? Hast du nicht vorhin noch versprochen, mit mir von hier zu fliehen? Nur deshalb habe ich die Flucht bis ins Detail vorbereitet, nur deshalb hast du mich auf den Schultern hierher getragen! Weshalb denn nun wieder diese Drehung um hundertachtzig Grad? Ist es die Frau?«
»Ja, sie natürlich auch«, sage ich. »Aber sie ist es nicht allein. Ich habe etwas entdeckt, eine bestimmte Sache, deshalb habe ich mich entschlossen hierzubleiben.«
Der Schatten seufzt. Dann wirft er noch einmal seinen Kopf in den Nacken. »Du hast ihre Seele gefunden, nicht wahr? Du hast dich entschlossen, mit ihr zusammen im Wald zu leben, und mich willst du verkaufen dafür, so ist es doch, oder?«
»Ich sage es noch einmal: Es geht nicht allein um sie«, sage ich. »Ich habe endlich herausgefunden, wer diese Stadt hier eigentlich erschaffen hat. Und deshalb ist es meine Pflicht und Verantwortung hierzubleiben. – Willst du denn gar nicht wissen, wer diese Stadt erschaffen hat?«
»Nein,
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