Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
Mutter, und zwar trotz sonntäglichem
Kirchgang, Ionas Moralpredigten und der Schule. Damit das Leben unserer kleinen
Schwestern nicht nur aus Pflichten bestand, hatten Tolliver und ich ihnen Geld
geschickt, damit Mariella und Gracie Tanz-, Sing- und Malstunden nehmen
konnten. All das ging mir jetzt wieder durch den Kopf. Aber was hätten wir
sonst noch tun können? Das Gericht hätte Tolliver und mir niemals das
Sorgerecht für die beiden Mädchen zugesprochen.
Meine
Kopfschmerzen wurden schlimmer, und ich sah ängstlich zum Himmel auf. Ich
wusste, dass ich dort bald die ersten Blitze entdecken würde.
Wir machten
das Radio an, um den Wetterbericht zu hören. Unwetter war angesagt, mit
heftigen Regenfällen und Gewitter. Wer hätte das gedacht... Außerdem wurde vor
Überschwemmungen gewarnt, was man tunlichst ernst nehmen sollte, wenn man auf
Straßen unterwegs ist, die steil nach unten führen, bevor sie wieder ansteigen.
Vor allem in einem Gebiet, wo sämtliche Flüsse und Bäche wegen des vielen
Regens sowieso schon Hochwasser führen.
In weniger
als zehn Minuten erreichten wir ein kleines Restaurant, das zu einer Kette
gehörte Wir nahmen die Regenjacken mit und gingen hinein. Es gab nicht allzu
viele Gäste: ein älteres Paar in der Nähe der Küchentür, ein einzelner Mann,
der Zeitung las und einen schmutzigen Teller vor sich stehen hatte, sowie ein
junges Paar Mitte zwanzig. Es hatte zwei Kinder und saß an einem Tisch am
großen Fenster. Der Mann und die Frau waren blass und fett und trugen beide Sweatshirts
von Wal-Mart. Er trug eine Baseballkappe. Ihr Haar war zu einem lockigen
Pferdeschwanz gebunden, und ihre Lider waren blau geschminkt. Der kleine, etwa
sechsjährige Junge trug Tarnfarbenklamotten und spielte mit einem
Plastikgewehr. Das kleine Mädchen war ein hübsches Ding mit dicken braunen
Haaren wie seine Mutter. Es hatte ein niedliches, wenngleich nichtssagendes
Gesicht und war mit einem Malbuch beschäftigt.
Eine
Kellnerin in Jeans und Bluse kam an unseren Tisch, um die Bestellung
aufzunehmen. Sie hatte blondgefärbtes Krisselhaar und kaute Kaugummi. Angeblich
freute sie sich, uns begrüßen zu dürfen, aber ich bezweifelte, dass das ehrlich
gemeint war. Nach einem kurzen Blick auf die Speisekarte bestellten wir, und
sie ging in die Küche. Nachdem sie uns unseren Eistee gebracht hatte,
verschwand sie wieder.
Das junge
Paar begann darüber zu streiten, ob ihre Tochter am nächsten
Schönheitswettbewerb teilnehmen solle oder nicht. Wie ich erfuhr, ist es ganz
schön teuer, sein Kind dort anzumelden. Wenn man dann noch ein Kleid ausleiht,
sich für die Veranstaltung frei nimmt, einen Friseur und eine Visagistin für
das Mädchen bezahlt, wird es noch teurer.
Ich warf
Tolliver einen vielsagenden Blick zu, und er unterdrückte ein Lächeln. Meine
Mutter hatte ebenfalls versucht, Cameron zu Schönheitswettbewerben zu schicken.
Beim ersten Wettbewerb hatte Cameron der Jury erzählt, diese Veranstaltungen
erinnerten sie an eine moderne Form der Sklavenhaltung. Sie hatte die Jury
widerlicher Perversionen beschuldigt. Klar, dass Camerons Karriere als
Schönheitskönigin ein jähes Ende nahm. Allerdings war Cameron damals schon
vierzehn gewesen. Das kleine Mädchen am anderen Ende des Raumes war höchstens
acht und sah aus, als könne es niemandem etwas zuleide tun.
Unser Handy klingelte
erneut, und diesmal ging Tolliver dran.
»Tolliver.
Hallo? Hey, Sascha! Und, wie sieht's aus?« Ah, die Haarproben. Der DNA-Test.
Er hörte
interessiert zu und wandte sich gleich darauf an mich.
»Keinerlei
Übereinstimmung«, sagte er. »Der Mann ist nicht der Vater. Frau eins ist die
Mutter von Frau zwei.« So hatte ich nämlich die Proben markiert.
»Danke,
Sascha. Ich schulde dir was.«
Er hatte
kaum aufgelegt, als es erneut klingelte. Wir sahen uns genervt an, und ich ging
dran.
»Harper
Connelly?«, fragte eine erschöpfte Stimme.
»Ja. Wer ist
dran?«, fragte ich.
»Sybil.«
Nie im Leben
hätte ich meine frühere Kundin erkannt, so angespannt und abgehackt klang ihre
Stimme.
»Was ist
los, Sybil?« Ich versuchte gelassen zu klingen.
»Sie müssen
herkommen, noch heute Abend.«
»Warum?«
»Ich muss
Sie sehen.«
»Warum?«
»Es gibt
etwas, das ich Ihnen sagen muss.«
»Sie müssen
uns nichts mehr sagen«, entgegnete ich. »Wir haben unseren Job erledigt.« Ich
schaffte es nur mit Mühe, ruhig zu bleiben. »Ich habe meinen Auftrag ausgeführt,
und Tolliver und ich werden diese Stadt verlassen,
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