Harpyien-Träume
Ausweg geben. Der Glaube daran hatte Gloha bereits zwei der Herausforderungen überwinden lassen. Auch hier mußte es irgendeine Lösung geben, die sie einfach nur erkennen mußte. Genau wie vorher.
Gloha schaute sich um. Da erblickte sie sieben gläserne Kelche, die am Rande der Höhle auf dem Boden standen. Jeder Kelch b e fand sich auf einem angebauten Podest. Vielleicht war es aber auch ein Doppelbehältnis, oben wie unten gleich, so daß die Gebilde wie Sanduhren aussahen. Sie schienen eine Auswahl verschiedener Samen zu enthalten. Jeder Kelch trug ein Schild. Auf dem einen stand SEK, auf dem nächsten MIN und auf einem weiteren HR. Ein Stück weiter stand auf einem TG, auf einem anderen WO, schließlich noch MO und endlich JH. Was konnte das sein?
Gloha wollte gerade in den ersten Kelch hineingreifen, um einige der Samen herauszuholen und zu begutachten. Doch dann zögerte sie, weil sie weder das Wesen der Kelche noch das der Samen ric h tig verstand – so, als ob dieses Verständnis ihr dazu verhelfen könnte, die Sache in Sicherheit zu überstehen, während sie bei mangelndem Verständnis Gefahr liefe, einen furchtbaren Fehler zu begehen. Vermutlich mußte sie erst die Bedeutung der Aufschri f ten entziffern, bevor sie es wagen durfte, etwas zu unternehmen.
Da sickerte ein weiterer Gedanke durch ihren umherschweife n den Geist. Eine Zeitwurzpflanze… Sanduhrkelche… das mußte die Saat der Zeit sein! Demnach würden einige dieser Samen ihr vielleicht dabei helfen, an der Mutterpflanze vorbeizukommen, wenn sie nur die richtigen bestimmte und dahinterkam, wie man sie benutzen mußte.
Jetzt ergaben die Aufschriften auch einen Sinn. SEK – das stand wahrscheinlich für Sekunden, die kleinste Zeiteinheit. MIN stünde dann für Minuten. Und so weiter – von Stunde über Tag zu W o che, Monat und Jahr. Die SEK-Samen waren winzig, während die anderen dementsprechend größer waren. Der Jahr-Samen schien den ganzen Kelch auszufüllen.
Was würde passieren, wenn sie diesen riesigen Jahr-Samen he r vorholte? Da die Zeitwurzpflanze sie, Gloha, langsamer machte, würde der Samen sie wahrscheinlich beschleunigen, so daß ein ganzes Jahr vermutlich binnen eines Augenblicks ablief. Das würde ihr nicht allzu viel nützen. Und wenn sie eine Sekunde nähme, wäre das kaum sinnvoller, weil schon eine gewöhnliche Sekunde sehr schnell verging. Welchen der Samen sollte sie also verwenden – und wie?
Gloha überlegte sich, daß sie den Verlangsamungseffekt aufh e ben konnte, wenn sie einige der Samen nahm und damit auf die Zeitwurzpflanze zuging, wodurch sie wieder schneller wurde. D a mit hätte sie ein normales Tempo wiedergeherstellt. Sofern die Samen so wirkten, wie sie es sich überlegt hatte.
Gloha kehrte zu dem SEK-Glas zurück und holte einen der S a men heraus. Die Höhle blitzte kurz auf, dann war der Samen ve r schwunden. Was war passiert?
Gloha dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß dieses Aufblitzen von der Zeit herrührte, die einen Sekundensatz nach vorn getan hatte. Damit war sie sich selbst gewissermaßen um eine Sekunde voraus.
Sie versuchte es erneut mit ihrem Trick, die Tasche fallen zu la s sen. Nur daß sie diesmal beim Loslassen gleich mehrere SEK-Samen aus dem Kelch nahm.
Ein dreimaliges Blitzen, und plötzlich lag die Tasche auf dem Boden – viel schneller, als es hätte sein dürfen. Jetzt war sich Gl o ha sicher: Einen Zeitsamen zu berühren bedeutete, seine Wirkung zu verspüren, und die war jener der Zeitwurzpflanze entgegeng e setzt.
Aber wie sollte sie dann diese Samen nutzen? Sie mußte sie in die Nähe der Pflanze befördern, ohne sie vorher zu berühren. Denn sie konnte ja nicht immer wieder zu dem Kelch zurück, um Nac h schub zu holen.
»Wie dumm ich bin!« rief Gloha plötzlich, als eine matte Glü h birne dicht über ihrem honigblonden kleinen Kopf aufblitzte. Dann nahm sie den SEK-Kelch auf. Sie wollte nur mit den Seku n den arbeiten. Die waren leichter zu handhaben, und notfalls kon n te man sie gleich händeweise verwenden.
Gloha trug das Sekundenglas soweit sie konnte, bis die Verlan g samung ihr größte Mühe bereitete. Dann holte sie ein SEK hervor. Diesmal gab es kein Aufblitzen – statt dessen wurde sie für einen Augenblick schneller. Der Samen hatte die Verlangsamung der Pflanze kurzzeitig aufgehoben. Es funktionierte!
Gloha schritt weiter, wobei sie immer wieder SEKs hervorholte. Sie kam nur ruckartig voran – mal sehr schnell, mal sehr langsam.
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