1172 - Die Macht des Kreuzes
Es war eine junge Frau. Sie hieß Emily White. Und sie war eine Person, die sich als Engel sah. Nicht mehr so sehr als Mensch. Sie war auf dem Weg dazu, ein Engel zu werden, und selbst ich wusste nicht genau, ob sie es schon geschafft hatte oder nicht.
»Auch du kannst mich nicht stoppen, Mann mit dem Kreuz.« Das hatte sie mir vor gar nicht langer Zeit zu verstehen gegeben. Jetzt sah alles danach aus, als sollte sie Recht behalten. Auf mich würde sie nicht hören und den Käfig trotz allem betreten. Sie wollte Harold Winter, und sie wollte ihre Rache.
Er hatte seine Vorführung unterbrochen, weil Emily so plötzlich erschienen war. Die Zuschauer im ausverkauften Zelt sahen dies als Gag an, der zum Programm gehörte, doch es war keiner. Wenn alles so endete, wie Emily sich das vorgestellt hatte, würde es einen Mord geben, zumindest eine blutige Abrechnung. Denn Winter war es gewesen, der Emily in die Anstalt geschafft hatte, aus der sie so schnell nicht wieder hatte entlassen werden sollen.
Sie war entlassen. Dafür hatte sie gesorgt. Und das auf ihre Art und Weise.
Zwar hatte sie mir zu verstehen gegeben, dass ich sie nicht stoppen konnte, aber einschüchtern ließ ich mich nicht. Deshalb ging ich ihr nach und rief noch einmal ihren Namen.
Kurz drehte die den Kopf. »Nein!«
Eine harte Antwort, die auch Glenda Perkins gehört hatte. Sie befand sich an meiner Seite. Durch sie war ich praktisch erst an Emily geraten.
Glenda hatte sich nicht nehmen lassen, mich zu begleiten. Ich wollte, dass sie zurückblieb, doch Glenda hörte nicht. Auch sie lief vor. Sie löste sich aus dem Schatten des Ausgangs und geriet hinein in das grelle Licht der Scheinwerfer. Mit halblauter Stimme sprach sie Emily an. Sie wollte die junge Frau zurückholen, die sich nicht beirren ließ und weiter auf den Käfig zuschwebte oder ging; so genau war das nicht festzustellen. Emily befand sich in einem ungewöhnlichen Zustand. Für mich war sie kein richtiger Mensch mehr, auch kein Engel. Sie lag irgendwo dazwischen. Über dieses Stadium hatte ich mir noch keine konkreten Gedanken gemacht. Das würde vielleicht noch kommen.
Glenda lief an mir vorbei. Sie wollte Emily stoppen, bevor sie den Käfig erreichte. Ich hätte meine Sekretärin und Assistentin gern zurückgehalten. Leider war sie zu schnell.
»Emily!«
Die Angesprochene drehte sich.
»Das kannst du nicht tun!«, rief Glenda.
Sie zeigte nicht die geringste Spur von Angst, obwohl sie wusste, wozu Emily fähig war.
Glenda schaffte es auch, an Emily heranzukommen. Sie streckte ihre Arme aus, um die hell gekleidete Gestalt festzuhalten, aber Emily wollte nicht.
»Nein!«
Das Wort wurde als schriller Schrei ausgestoßen. Einen Moment später rammte Emily ihren Arm vor. Die Hand erwischte Glenda an der Brust und schleuderte sie zu Boden. »Einen Schritt weiter, und ich verbrenne dich!«, zischte sie Glenda zu.
Es war eine Drohung, über die niemand lächeln konnte. Emily brachte so etwas fertig. Sie verbrannte die Gesichter der Menschen und nahm sie ihnen weg. So war sie Glenda aufgefallen, und bei mir würde sie das Gleiche versuchen, wenn ich eingriff.
Aus den Reihen der Zuschauer hörte ich hier und da ein Lachen. Die Leute glaubten noch immer, dass die Schau zum Programm gehörte.
Für Emily war Glenda nicht mehr wichtig. Sie wandte sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu. Sie sah mich kurz an und entdeckte auch das Kreuz in meiner rechten Hand.
Sie lächelte.
»Lass es!«, rief ich.
»Nein, Sinclair. Die Kräfte in deinem Kreuz werden mich verstehen. Man kann und darf keine Engel einsperren.«
Glenda rappelte sich auf. Aufgegeben hatte sie noch nicht, auch wenn sie meine Warnung erreichte. Ich konnte sie nicht stoppen, denn sie lief ebenfalls auf das Gitter zu, weil sie Emily dort den Weg abschneiden wollte. Es ging alles so schnell. Ich achtete auch nicht auf die Rufe hinter mir. Da hatten die Mitarbeiter des Zirkusses endlich gemerkt, dass die Dinge nicht so liefen, wie man es sich vorgestellt hatte. Es traute sich jedoch keiner einzugreifen, und plötzlich sah ich Glenda an den Gitterstäben.
Sie stand neben der Tür. Sie hielt die Arme zu den Seiten hin gestreckt. Aus dem Käfig sprach Winter mit ihr. Er wollte sie auch wegschicken, aber sie blieb.
Und Emily ging.
Nein, sie schwebte wieder. Sie zeigte, dass sie sich noch in der Aufbauphase befand. Sie war langsam, aber trotzdem schnell. Es gab eigentlich nur uns drei. Glenda vor ihr, ich hinter ihr, und ich
Weitere Kostenlose Bücher