Harry Potter - Gesamtausgabe
geschah: Einen Moment lang drückten sich Piers und Dudley ganz dicht gegen das Glas und im nächsten Moment sprangen sie unter Schreckgeheule zurück.
Harry setzte sich auf und nun stockte ihm der Atem. Die Glasscheibe am Terrarium der Boa constrictor war verschwunden. Die große Schlange entrollte sich im Nu und schlängelte sich heraus auf den Boden. – Im ganzen Reptilienhaus schrien die Menschen und rannten zu den Ausgängen.
Als die Schlange an Harry vorbeiglitt, hätte er schwören können, dass eine leise, zischelnde Stimme sagte: »Brasilien, ich komme … tschüsss, Amigo.«
Der Obertierpfleger des Reptilienhauses stand unter Schock.
»Aber das Glas«, murmelte er ständig vor sich hin, »was ist aus dem Glas geworden?«
Der Zoodirektor persönlich brühte Tante Petunia eine Tasse starken, süßen Tee und überschlug sich mit seinen Entschuldigungen. Piers und Dudley schnatterten nur noch. Soweit Harry es gesehen hatte, hatte die Schlange nichts getan, außer im Vorbeigleiten spielerisch gegen ihre Fersen zu schlenzen, doch als sie alle wieder in Onkel Vernons Wagen saßen, erzählte ihnen Dudley, die Schlange hätte ihm fast das Bein abgebissen, während Piers schwor, sie hätte versucht, ihn totzuquetschen. Doch am schlimmsten für Harry war, dass Piers, als er sich ein wenig beruhigt hatte, sagte: »Harry hat mit ihr gesprochen, nicht wahr, Harry?«
Onkel Vernon wartete, bis Piers endgültig aus dem Haus war, bevor er sich Harry vorknöpfte. Er war so wütend, dass er kaum ein Wort hervorbrachte. »Geh – Schrank – bleib – kein Essen«, konnte er gerade noch herauswürgen, bevor er auf einem Stuhl zusammensackte und Tante Petunia ihm schleunigst einen großen Cognac bringen musste.
Harry lag noch lange wach in seinem dunklen Schrank. Hätte er doch nur eine Uhr. Er wusste nicht, wie spät es war, und er war sich nicht sicher, ob die Dursleys schon schliefen. Bis es so weit war, konnte er es nicht riskieren, in die Küche zu schleichen und sich etwas zu essen zu holen.
Fast zehn Jahre lebte er nun bei den Dursleys, solange er sich erinnern konnte, und es waren zehn elende Jahre gewesen. Schon als Baby war er zu ihnen gekommen, denn seine Eltern waren bei einem Autounfall gestorben. Er konnte sich nicht erinnern, in diesem Auto gewesen zu sein, als der Unfall passierte. Manchmal, wenn er sich während der langen Stunden im Schrank ganz angestrengt zu erinnern suchte, tauchte ein unheimliches Bild vor seinen Augen auf: ein blendend heller Blitz aus grünem Licht und ein brennender Schmerz auf seiner Stirn. Das musste der Unfall gewesen sein, obwohl er sich nicht erklären konnte, wo all das grüne Licht herkam. Er konnte sich überhaupt nicht an seine Eltern erinnern. Onkel und Tante sprachen nie über sie, und natürlich war es ihm verboten, Fragen zu stellen. Im Haus gab es auch keine Fotos von ihnen.
Als Harry noch jünger gewesen war, hatte er immer und immer wieder von einem unbekannten Verwandten geträumt, der kommen und ihn mitnehmen würde, aber das war nie Wirklichkeit geworden; die Dursleys waren alles, was er noch an Familie hatte. Doch manchmal hatte er den Eindruck (oder vielleicht die Hoffnung), dass Unbekannte auf der Straße ihn zu kennen schienen. Sehr merkwürdige Unbekannte waren das übrigens. Einmal, als er mit Tante Petunia und Dudley beim Einkaufen war, hatte sich ein kleiner Mann mit einem violetten Zylinder vor ihm verneigt. Tante Petunia fragte Harry ganz entsetzt, ob er den Mann kenne, und schubste ihn und Dudley hastig aus dem Laden, ohne etwas zu kaufen. Ein andermal hatte ihm eine wild aussehende, ganz in Grün gekleidete alte Frau im Bus fröhlich zugewinkt. Und ein glatzköpfiger Mann mit einem sehr langen, purpurnen Umhang hatte ihm doch tatsächlich mitten auf der Straße die Hand geschüttelt und war dann, ohne ein Wort zu sagen, weitergegangen. Das Seltsamste an all diesen Leuten war, dass sie zu verschwinden schienen, wenn Harry versuchte sie genauer anzusehen.
In der Schule hatte Harry niemanden. Jeder wusste, dass Dudleys Bande diesen komischen Harry Potter mit seinen ausgebeulten alten Klamotten und seiner zerbrochenen Brille nicht ausstehen konnte, und niemand mochte Dudleys Bande in die Quere kommen.
Briefe von niemandem
Die Flucht der brasilianischen Boa constrictor hatte Harry die bisher längste Strafe eingebracht. Als er den Schrank wieder verlassen durfte, hatten die Sommerferien begonnen. Dudley hatte seine neue Videokamera schon längst
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