Weißer Mond von Barbados
Prolog
Endlich war seine Sekretärin, wenn auch widerwillig, nach Hause gegangen; sie war überaus gewissenhaft, liebte ihre Arbeit und war stets bereit, auch nach Dienstschluss im Büro zu bleiben. Obwohl er oft genug erklärte, wie unentbehrlich sie ihm sei, an diesem Abend hatte ihr Eifer, zu bleiben und ihm zu helfen, ihn reichlich nervös gemacht. Es hatte ihn allerhand Überredung gekostet, bis sie sich endlich geschlagen gab und mit einem letzten vorwurfsvollen Blick auf seinen unaufgeräumten Schreibtisch von dannen zog.
Ein paar Minuten lang blieb er reglos sitzen. Als er sicher war, daß sie das Gebäude verlassen hatte, stand er auf, ging zur Tür und drehte den Schlüssel herum. Es war schon dunkel draußen, die Fensterscheiben von Schneeflocken bestäubt. Er betrachtete den Schnee aufmerksam, ehe er den Vorhang zuzog. Nun war die Welt ausgesperrt. Dann knipste er die Schreibtischlampe an.
Das Durcheinander auf seinem Schreibtisch war es, was seine Sekretärin am meisten gestört hatte; sie hielt es für unter seiner Würde, daß er selbst aufräumte und die herumliegenden Akten einordnete. Aber im Moment war das unwichtig. Er schob den Papierwust beiseite, nahm den kleinen Schlüssel, der mit einer Kette an seiner Weste befestigt war, und sperrte die mittlere Schublade seines Schreibtisches auf. Nur er besaß einen Schlüssel zu dieser Schublade.
Behutsam nahm er die Akte heraus, die durch einen dicken roten Stempel in der linken Ecke als ›Geheim‹ gekennzeichnet war. Und nachdem er sie direkt unter der Schreibtischlampe platziert hatte, begann er sorgfältig, Seite für Seite, den Inhalt zu fotografieren. Dazu benutzte er einen kleinen Gegenstand, so klein, daß er ihn in der Hand verbergen konnte.
Plötzlich fuhr er auf, lauschte reglos, starr vor Schreck, denn draußen auf dem Gang vor seinem Büro näherten sich Schritte. Panik ergriff ihn, er war unfähig, sich zu rühren, starrte nur auf die Türklinke – wie ein nächtlicher Alptraum war es –, hatte er vergessen, die Tür abzuschließen, war er trotz jahrelanger bewährter Achtsamkeit doch einmal unachtsam gewesen und hatte nicht abgeschlossen? Wenn die Schritte vor seiner Tür verstummten, wenn es klopfte, wenn die Tür geöffnet wurde …
Aber niemand klopfte. Niemand berührte die Klinke. Die Schritte gingen vorbei, verklangen, das einzige, was er noch hörte, war das wilde Schlagen seines Herzens.
In den nächsten fünf Minuten hatte er seine Arbeit beendet, schichtete die Blätter aufeinander, schloß die Akte. Erst dann stand er auf und ging zur Tür. Er lächelte. Wie albern von ihm. Natürlich hatte er abgeschlossen. Er hatte es noch nie vergessen.
Als er kurz darauf sein Büro verließ, war sein Schreibtisch leer. Die herumliegenden Papiere, die seine Sekretärin so geärgert hatten, waren weggeräumt, die mittlere Schublade verschlossen und die Akte mit dem roten Geheimstempel sicher verwahrt im Safe eine Etage tiefer.
1
»Ladies and Gentlemen, wir befinden uns im Anflug auf Barbados. In ungefähr zehn Minuten werden wir auf dem Seaways Airport landen.«
Die Stimme des Piloten klang gelangweilt. Ein kleines Kind in einer der hinteren Reihen der Touristenklasse hörte schlagartig auf zu weinen; zum ersten Mal seit zwei Stunden. Judith wußte genau, daß es zwei Stunden waren, denn sie hatte auf die Uhr gesehen. Noch ein letzter Schluchzer, dann wurde es still, so als hätte das Baby verstanden, daß die Reise, die ihm so wenig behagte, zu Ende ging. Offenbar hatte es den Flug genauso wenig genossen wie Judith.
Die Passagiere schauten aus den Fenstern, neugierig darauf, die Insel zu sehen, die winzig klein und unwahrscheinlich grün da unten im glitzernden blauen Meer schwamm. Trotz ihrer Lethargie erwachte auch in Judith ein wenig Interesse, sie warf einen flüchtigen Blick über die Schulter ihres Nachbarn. Schön würde es da sein, still und friedlich, hatte man ihr prophezeit, nicht so ein Betrieb wie auf den größeren Karibischen Inseln. Es sei ein kleines verschlafenes Paradies und darum gerade das richtige für sie, um zur Besinnung, zur Ruhe zu kommen, um den Kummer zu vergessen, der sie quälte. Aber was wußten die anderen schon von ihr? In ihrem ganzen achtundzwanzigjährigen Leben war sie nie so unglücklich, so verzweifelt gewesen, war sich nie so beschmutzt und betrogen vorgekommen. Das konnte Nancy nicht begreifen, und das verstand Sam Nielson erst recht nicht.
Sam Nielson war ihr Chef. Und er hatte
Weitere Kostenlose Bücher