Harry Potter - Gesamtausgabe
Hermine zeigte ihm das Symbol darunter.
»Harry, das ist das Zeichen aus dem Buch!«
Er schaute angestrengt auf die Stelle, auf die sie deutete: Der Stein war so ausgewaschen, dass man kaum erkennen konnte, was da eingemeißelt war, doch schien sich unter dem fast unleserlichen Namen tatsächlich ein dreieckiges Zeichen zu befinden.
»Jaah … könnte sein …«
Hermine entzündete ihren Zauberstab und richtete ihn auf den Namen auf dem Grabstein.
»Da steht Ig-Ignotus, glaube ich …«
»Ich such wieder nach meinen Eltern, in Ordnung?«, sagte Harry zu ihr, wobei seine Stimme leicht gereizt klang, und er ging weiter und ließ sie neben dem alten Grab kauernd zurück.
Hin und wieder sah er einen Nachnamen wie Abbott, den er von Hogwarts her kannte. Von manchen Zaubererfamilien lagen mehrere Generationen auf dem Friedhof: Harry konnte aus den Daten schließen, dass sie entweder ausgestorben waren oder dass die jüngeren Angehörigen aus Godric’s Hollow weggezogen waren. Er ging immer tiefer zwischen die Gräber, und jedes Mal, wenn er zu einem neuen Grabstein gelangte, spürte er zugleich Beklemmung und Vorfreude in sich aufkommen.
Die Dunkelheit und die Stille schienen auf einmal viel größer zu werden. Harry sah sich besorgt um, er dachte an Dementoren, doch dann bemerkte er, dass keine Weihnachtslieder mehr zu hören waren und sich das Stimmengewirr und die Schritte der Kirchgänger, die zum Dorfplatz zurückgingen, in der Ferne verloren. Im Innern der Kirche hatte jemand gerade das Licht ausgemacht.
Dann drang Hermines Stimme zum dritten Mal aus der Schwärze, scharf und klar, aus wenigen Metern Entfernung.
»Harry, sie sind hier … hier ist es.«
Und er erkannte an ihrem Ton, dass es diesmal seine Mutter und sein Vater waren: Er ging zu ihr hin mit dem Gefühl, als würde ihm etwas Schweres auf der Brust lasten, mit demselben Gefühl wie damals, kurz nachdem Dumbledore gestorben war, einer Trauer, die buchstäblich auf sein Herz und seine Lunge drückte.
Der Grabstein stand nur zwei Reihen hinter dem von Kendra und Ariana. Er war aus weißem Marmor, genau wie Dumbledores Grabmal, und so war er leicht zu lesen, denn er schien in der Dunkelheit zu leuchten. Harry musste sich nicht hinknien und nicht einmal ganz nahe herantreten, um die Worte zu erkennen, die darin eingemeißelt waren:
James Potter
geboren am 27. März 1960, gestorben am 31. Oktober 1981
Lily Potter
geboren am 30. Januar 1960, gestorben am 31. Oktober 1981
Der letzte Feind, der zerstört werden wird, ist der Tod.
Harry las die Inschrift langsam, als ob er nur eine einzige Gelegenheit hätte, ihren Sinn zu begreifen, und er las die letzten Worte laut.
»Der letzte Feind, der zerstört werden wird, ist der Tod …« Ein schrecklicher Gedanke kam ihm, in einem Anflug von Panik. »Ist das nicht eine Vorstellung von den Todessern? Was hat das hier zu suchen?«
»Es bedeutet nicht, dass der Tod so besiegt wird, wie die Todesser es meinen, Harry«, sagte Hermine mit sanfter Stimme. »Es bedeutet … du weißt schon … über den Tod hinaus leben. Leben nach dem Tod.«
Aber sie leben nicht, dachte Harry: Sie sind nicht mehr. Die leeren Worte konnten die Tatsache nicht verhüllen, dass die vermoderten Überreste seiner Eltern unter Schnee und Stein lagen, gleichgültig, unwissend. Und Tränen kamen ihm, ehe er sie zurückhalten konnte, kochend heiß und im nächsten Moment schon eisig auf seinem Gesicht, und wozu sollte er sie abwischen oder sie verbergen? Er ließ sie heruntertropfen, mit fest zusammengepressten Lippen, und sah hinab auf den dichten Schnee, der den Ort vor seinen Augen verbarg, wo die letzten Überreste von Lily und James lagen, die jetzt gewiss nur noch Knochen waren oder Staub, unwissend und gleichgültig ihrem lebenden Sohn gegenüber, der nun so nahe bei ihnen war und dessen Herz noch schlug, der lebendig war, weil sie sich geopfert hatten, und der in diesem Moment fast den Wunsch verspürte, unter dem Schnee bei ihnen zu schlafen.
Hermine hatte wieder seine Hand genommen und hielt sie fest. Er konnte sie nicht ansehen, erwiderte aber ihren Händedruck und atmete die Nachtluft jetzt in tiefen, heftigen Zügen ein, versuchte sich zu beruhigen, versuchte seine Beherrschung zurückzugewinnen. Er hätte etwas für sie mitbringen sollen, und er hatte nicht daran gedacht, und alle Pflanzen auf dem Friedhof waren kahl und gefroren. Aber Hermine hob ihren Zauberstab, zog einen Kreis durch die Luft, und vor ihnen
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