Harry Potter - Gesamtausgabe
genug war, um gut sehen zu können, dann streckte sie die offene Handfläche aus. Da lag die Blüte und öffnete und schloss ihre Blätter wie eine seltsame, viellippige Auster.
»Hör auf damit!«, kreischte Petunia.
»Die tut dir doch nichts«, sagte Lily, schloss aber die Hand über der Blüte und warf sie wieder zu Boden.
»Das macht man nicht«, sagte Petunia, doch ihr Blick war der hinabfliegenden Blüte gefolgt und blieb auf ihr ruhen. »Wie kriegst du das hin?«, fügte sie hinzu und in ihrer Stimme lag eindeutiges Verlangen.
»Ist doch klar, oder?« Snape hatte sich nicht mehr länger zurückhalten können und war hinter den Sträuchern hervorgesprungen. Petunia kreischte und lief rückwärts in Richtung der Schaukeln, doch Lily blieb stehen, wenn auch offensichtlich verdutzt. Snape schien es zu bereuen, dass er sich gezeigt hatte. Ein mattes Rot kroch über seine fahlen Wangen, während er Lily ansah.
»Was ist klar?«, fragte Lily.
Snape wirkte leicht nervös und aufgeregt. Er warf einen Blick auf die ferne Petunia, die sich nun abwartend bei den Schaukeln herumdrückte, senkte die Stimme und sagte: »Ich weiß, was du bist.«
»Was meinst du?«
»Du bist … du bist eine Hexe«, flüsterte Snape.
Sie sah beleidigt aus.
»Es ist nicht besonders nett, wenn man jemandem das sagt!«
Sie wandte sich ab, die Nase in die Luft gereckt, und marschierte davon zu ihrer Schwester.
»Nein!«, sagte Snape. Er war jetzt puterrot, und Harry fragte sich, warum er den lächerlich großen Mantel nicht ablegte, vielleicht einfach weil er den Kittel darunter nicht zeigen wollte. Als er den Mädchen damit hinterherflatterte, ähnelte er auf groteske Weise einer Fledermaus, ganz wie sein älteres Selbst.
Die Schwestern hielten sich an einer Stange der Schaukel fest, als könnten sie hier wie beim Fangenspielen nicht abgeklatscht werden, und musterten ihn, einig in ihrer Ablehnung.
»Du bist eine«, sagte Snape zu Lily. »Du bist eine Hexe. Ich hab dir schon eine Weile zugeschaut. Aber das ist nichts Schlimmes. Meine Mum ist auch eine und ich bin ein Zauberer.«
Petunias Lachen war wie kaltes Wasser.
»Zauberer!«, kreischte sie mit frischem Mut, nun, da sie sich von dem Schreck erholt hatte, den ihr sein unerwartetes Auftauchen eingejagt hatte. » Ich weiß, was du bist. Du bist dieser Junge von den Snapes. Die wohnen am Fluss unten in Spinner’s End«, erklärte sie Lily, und aus ihrem Ton war deutlich herauszuhören, dass sie diese Adresse für eine schlechte Empfehlung hielt. »Warum hast du uns nachspioniert?«
»Ich hab nicht spioniert«, sagte Snape, erhitzt und verlegen, mit seinen schmutzigen Haaren im hellen Sonnenlicht. »Dir würd ich sowieso nicht nachspionieren«, fügte er gehässig hinzu, »du bist ein Muggel.«
Obwohl Petunia das Wort offensichtlich nicht verstand, konnte sie den Tonfall kaum falsch deuten.
»Lily, komm, wir gehen!«, sagte sie schrill. Lily gehorchte ihrer Schwester sofort und funkelte Snape im Davongehen böse an. Da stand er und sah ihnen nach, wie sie durch das Tor des Spielplatzes marschierten, und Harry, der Einzige, der ihn noch beobachtete, bemerkte Snapes bittere Enttäuschung und begriff, dass Snape diesen Auftritt schon eine ganze Weile geplant hatte und dass alles schiefgegangen war …
Die Szene löste sich auf, und ehe Harry sich’s versah, war eine neue um ihn herum entstanden. Er befand sich jetzt in einem kleinen Dickicht von Bäumen. Zwischen den Stämmen hindurch konnte er einen Fluss in der Sonne glitzern sehen. Die Schatten der Bäume bildeten eine kühle grüne Mulde. Zwei Kinder saßen am Boden einander gegenüber, die Beine über Kreuz; Snape hatte jetzt seinen Mantel abgelegt; sein merkwürdiger Kittel wirkte im Dämmerlicht weniger sonderbar.
»… und das Ministerium kann dich bestrafen, wenn du außerhalb der Schule zauberst, dann kriegst du Briefe.«
»Aber ich habe außerhalb der Schule gezaubert!«
»Bei uns ist das nicht schlimm. Wir haben noch keine Zauberstäbe. Die lassen es durchgehen, wenn du noch ein Kind bist und nichts dafür kannst. Aber sobald du elf bist«, er nickte wichtigtuerisch, »und die anfangen, dich auszubilden, musst du vorsichtig sein.«
Eine kurze Stille trat ein. Lily hatte einen herabgefallenen Zweig aufgehoben und wirbelte ihn durch die Luft, und Harry wusste, dass sie sich vorstellte, er würde einen Funkenschweif hinter sich herziehen. Dann ließ sie den Zweig fallen, beugte sich zu dem Jungen vor und sagte:
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