Harry Potter und der Halbblutprinz
los; sein Gesichtsausdruck war mörderisch. Beide standen da und atmeten schwer, bis Mrs Norris, Filchs Katze, um die Ecke kam, was die Spannung löste.
»Komm schon«, sagte Harry, als das Geräusch von Filchs schlurfenden Schritten zu hören war.
Sie eilten die Treppen hoch und einen Korridor im siebten Stock entlang. »He, aus dem Weg!«, bellte Ron ein kleines Mädchen an, das erschrocken zusammenfuhr und eine Flasche Krötenlaich fallen ließ.
Harry nahm das Geräusch von splitterndem Glas kaum wahr; er fühlte sich wirr und schwindlig; so ungefähr musste es wohl sein, wenn man von einem Blitz getroffen wurde. Es ist nur, weil sie Rons Schwester ist , sagte er sich. Du hast nur nicht gern dabei zugesehen, wie sie Dean küsste, weil sie Rons Schwester ist …
Doch unaufgefordert tauchte in seiner Vorstellung ein Bild von genau demselben verlassenen Korridor auf, und diesmal war er selbst es, der Ginny küsste … das Monster in seiner Brust schnurrte behaglich … aber dann sah er, wie Ron den Wandteppich zur Seite riss, seinen Zauberstab gegen Harry zog und Dinge rief wie »Vertrauensbruch« … »dachte, du bist mein Freund« …
»Meinst du, Hermine hat wirklich mit Krum geknutscht?«, fragte Ron urplötzlich, als sie sich der fetten Dame näherten. Harry zuckte schuldbewusst zusammen und zerrte seine Phantasie weg von einem Korridor, wo kein Ron hereinkam, wo er und Ginny ganz allein waren –
»Was?«, sagte er verwirrt. »Oh … ähm …«
Die ehrliche Antwort war »ja«, aber er wollte sie nicht geben. Ron schien sich jedoch aus Harrys Gesichtsausdruck das Schlimmste zusammenzureimen.
»Krönungsmahl«, sagte er finster zu der fetten Dame, und sie kletterten durch das Porträtloch in den Gemeinschaftsraum.
Keiner von beiden erwähnte noch einmal Ginny oder Hermine; tatsächlich sprachen sie an diesem Abend kaum miteinander und gingen schweigend zu Bett, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.
Harry lag noch lange wach, sah hoch zum Baldachin seines Himmelbetts und versuchte sich einzureden, dass seine Gefühle für Ginny nur die eines älteren Bruders waren. Hatten sie nicht den gesamten Sommer über wie Bruder und Schwester zusammengelebt, Quidditch gespielt, Ron getriezt und sich über Bill und Schleim lustig gemacht? Er kannte Ginny jetzt schon seit Jahren … es war ganz normal, dass er eine Art Beschützerinstinkt entwickelt hatte … ganz normal, dass er auf sie aufpassen wollte … Dean sämtliche Gliedmaßen einzeln ausreißen wollte, weil er sie geküsst hatte … nein … er würde dieses eigentümliche brüderliche Gefühl beherrschen müssen …
Von Ron kam ein lautes, grunzendes Schnarchen.
Sie ist Rons Schwester, sagte sich Harry entschieden. Rons Schwester. Sie ist tabu . Er würde seine Freundschaft mit Ron für nichts in der Welt aufs Spiel setzen. Er klopfte sein Kissen bequemer zurecht und wartete auf den Schlaf, während er sich heftig bemühte, seine Gedanken nicht irgendwo in die Nähe von Ginny schweifen zu lassen.
Als Harry am nächsten Morgen erwachte, war er ein wenig benommen und durcheinander, denn er hatte einige Male geträumt, dass Ron ihn mit einem Treiberschlagholz gejagt hatte, aber spätestens um die Mittagszeit hätte er den echten Ron liebend gern gegen den Traum-Ron eingetauscht, denn der echte zeigte nicht nur Ginny und Dean die kalte Schulter, sondern behandelte auch die gekränkte und verwirrte Hermine mit eisiger, höhnischer Gleichgültigkeit. Und was noch übler war, Ron schien über Nacht genauso reizbar und angriffslustig geworden zu sein wie ein gewöhnlicher Knallrümpfiger Kröter. Harry mühte sich den ganzen Tag, den Frieden zwischen Ron und Hermine zu bewahren, aber ohne Erfolg: Am Ende ging Hermine ziemlich aufgebracht zu Bett, und Ron stolzierte zum Jungenschlafsaal davon, nachdem er mehrere verängstigte Erstklässler zornig beschimpft hatte, nur weil sie ihn angesehen hatten.
Zu Harrys Entsetzen verflog Rons neue Angriffslust auch während der nächsten paar Tage nicht. Schlimmer noch, seine Fähigkeiten als Hüter erreichten gleichzeitig einen neuen Tiefpunkt, was ihn noch aggressiver machte, so dass er es beim letzten Quidditch-Training vor dem Samstagsspiel nicht schaffte, auch nur einen einzigen Schuss der Jäger auf seine Tore zu halten, aber dafür alle anderen so übel anschnauzte, dass Demelza Robins in Tränen ausbrach.
»Halt du doch die Klappe und lass sie in Ruhe!«, rief Peakes, der nur etwa zwei Drittel so groß war wie
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