Harry Potter und der Halbblutprinz
Finger auf den Mund und riss die Augen auf. Irgendwo draußen in der Dunkelheit sang ein Phönix auf eine Weise, wie Harry es noch nie gehört hatte: Es war eine Klage voller Schmerz und von schrecklicher Schönheit. Und Harry spürte, wie er es schon früher beim Gesang des Phönix erlebt hatte, dass die Musik nicht draußen, sondern in ihm war: Es war sein eigenes Leid, auf magische Weise in ein Lied verwandelt, das über das Gelände und durch die Schlossfenster hallte.
Wie lange sie alle dastanden und lauschten, wusste er nicht, auch nicht, warum es ihren Schmerz offenbar ein wenig linderte, dem Klang ihrer eigenen Trauer zuzuhören, doch es schien einige Zeit vergangen zu sein, als die Türen zum Krankensaal wieder aufgingen und Professor McGonagall hereinkam. Wie alle anderen war sie von dem noch nicht lange zurückliegenden Kampf gezeichnet: Sie hatte Schrammen im Gesicht und ihr Umhang war zerrissen.
»Molly und Arthur sind unterwegs«, sagte sie und der Bann der Musik war gebrochen: Alle sammelten sich, als würden sie aus einer Trance erwachen, wandten sich wieder Bill zu oder rieben sich die Augen, schüttelten den Kopf. »Harry, was ist passiert? Hagrid zufolge waren Sie bei Professor Dumbledore, als er – als es geschah. Er sagt, Professor Snape sei irgendwie darin verwickelt ge–«
»Snape hat Dumbledore getötet«, sagte Harry.
Sie starrte ihn einen Moment an, dann geriet sie Besorgnis erregend ins Schwanken; Madam Pomfrey, die sich offenbar wieder gefasst hatte, rannte hinzu, beschwor einen Stuhl aus dem Nichts herauf und schob ihn unter McGonagall.
»Snape«, wiederholte McGonagall matt und sank auf den Stuhl. »Wir haben uns alle gewundert … aber er hat … Snape … immer vertraut … ich kann es nicht glauben …«
»Snape war ein hervorragender Okklumentiker«, sagte Lupin mit ungewöhnlich rauer Stimme. »Das haben wir immer gewusst.«
»Aber Dumbledore hat geschworen, dass er auf unserer Seite ist!«, flüsterte Tonks. »Ich dachte immer, Dumbledore muss etwas über Snape wissen, das wir nicht wissen …«
»Er hat immer angedeutet, dass er einen stichhaltigen Grund dafür habe, Snape zu vertrauen«, murmelte Professor McGonagall und tupfte sich die tränennassen Augenwinkel mit einem karogesäumten Taschentuch ab. »Ich meine … bei Snapes Geschichte … die Leute mussten sich unweigerlich fragen … aber Dumbledore hat mir ausdrücklich gesagt, Snapes Reue sei absolut aufrichtig … wollte kein kritisches Wort gegen ihn hören!«
»Ich würde wirklich gern wissen, was Snape zu ihm gesagt hat, das ihn dermaßen überzeugt hat«, meinte Tonks.
»Ich weiß es«, sagte Harry, und alle drehten sich um und starrten ihn an. »Snape hat Voldemort die Information gegeben, die Voldemort dazu brachte, meine Mum und meinen Dad zu jagen und umzubringen. Dann hat Snape Dumbledore gesagt, er sei sich nicht bewusst gewesen, was er tat, es tue ihm wirklich leid, dass er es getan habe, es tue ihm leid, dass sie tot seien.«
»Und das hat Dumbledore geglaubt?«, fragte Lupin skeptisch. »Dumbledore hat geglaubt, dass es Snape leidtut, dass James gestorben ist? Snape hat James gehasst …«
»Und von meiner Mutter hat er auch nicht das Geringste gehalten«, sagte Harry, »weil sie muggelstämmig war … ›Schlammblüterin‹ hat er sie genannt …«
Niemand fragte Harry, woher er das wusste. Alle schienen in ihrem Schock und ihrem Entsetzen versunken, schienen zu versuchen, die ungeheuerliche Wahrheit dessen, was geschehen war, zu verarbeiten.
»Es ist alles meine Schuld«, sagte Professor McGonagall plötzlich. Sie sah verwirrt aus und schlang sich ihr feuchtes Taschentuch um die Hände. »Meine Schuld. Ich habe heute Nacht Filius geschickt, um Snape zu holen, ich habe ihn tatsächlich holen lassen, damit er uns hilft! Wenn ich Snape nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, was vor sich ging, wäre er den Todessern vielleicht nie zu Hilfe geeilt. Ich glaube nicht, dass er wusste, dass sie hier waren, ehe Filius es ihm sagte, ich glaube nicht, dass er wusste, dass sie kommen würden.«
»Es ist nicht deine Schuld, Minerva«, sagte Lupin entschieden. »Wir alle wollten mehr Unterstützung haben, wir alle waren froh bei dem Gedanken, dass Snape auf dem Weg war …«
»Und als er dann zum Kampf stieß, hat er sich auf die Seite der Todesser geschlagen?«, fragte Harry, der jede Einzelheit über Snapes Falschheit und Niedertracht erfahren wollte, um fieberhaft weiter Gründe zu sammeln, ihn zu
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